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Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
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Wissenschaften

Über Wachstum und Form

Autor*in:D’Arcy Wentworth Thompson
Verlag:Die Andere Bibliothek, Berlin 2006, 411 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:20.09.2023

Jüngst fiel mir ein schön gebundenes Buch in die Hand, dessen Titel mich sogleich ansprach: Über Wachstum und Form. Sein Verfasser, D’Arcy Wentworth Thompson (1860-1948), war mir ebenso unbekannt wie der Herausgeber dieser von 1007 auf 411 Seiten gekürzten Neuauflage des ursprünglich 1961 erschienenen Originaltitels. John Tyler Bonner, ein renommierter Evolutionsbiologe aus den USA, ist der Verfasser eines der drei Vorworte zu dieser ins Deutsche übersetzten Ausgabe. Sie erschien 2006 in der bibliophilen Reihe Die Andere Bibliothek von Hans Magnus Enzensberger. Der Dritte in Sachen Geleitwort war mir wenigstens vom Namen her bekannt: Der Schweizer Biologe und Naturphilosoph Adolf Portmann (1897-1982). Von ihm, so erinnerte ich mich, stammte der Begriff des Menschen als einer „physiologischen Frühgeburt“. 

Den Anfang der klugen und einfühlsamen Vorworte macht Steven Jay Gould, der jüngste der erwähnten Evolutionsforscher; er stellt seinen Text unter das Motto des Shakespeare-Ausrufes „Das war ein Mann!“ Allen Ausführungen gemein ist eine bewundernde Hochachtung vor der nonkonformen Denkungsart D’Arcy Thompsons. Gerade für einen mit der Thematik des Buches kaum oder nicht vertrauten Leser sind diese Vorworte sehr hilfreich - und dies gilt auch für den Rezensenten. Was etwa Gould knapp, präzise und dazu noch sprachlich ausgesprochen elegant über D’Arcy Thompson ausführt, mit dem kann kein Nicht-Biologe mithalten.

D’Arcy Wentworth Thompson stammte aus Schottland, war ein britischer Mathematiker und Biologe und interessierte sich darüber hinaus für einiges mehr. Dieser Zoologe, den die Morphologie lebenslang beschäftigte, war zudem begeisterter Altphilologe, der seine Quellen noch im Original studierte. Dem Herausgeber sei Dank, dass die Unmengen an Zitaten übersetzt und so für uns Leser heute lesbar gemacht wurden.

Das Buch mit seinem nüchternen Titel kommt nur scheinbar etwas trocken daher. Sein Verfasser will uns offenbar formvollendet erfreuen und belehren, ohne auch nur ansatzweise zu schulmeistern. Das geschieht beinahe im Plauderton, wie man ihn von einem Mann der strengen Naturwissenschaften nicht erwartet. Für mich war bislang die Freud’sche Wissenschafts-Prosa das stilistische Non-plus-Ultra. Nach der Lektüre der ersten Seiten D’Arcy Thompsons erscheint mir nun die Sprache Freuds an manchen Stellen als die artifiziellere.

Morphologie als Gebiet der Biologie ist Wissenschaft vom Entstehen, vom Wachstum und Wandel der Formen. Ihre Betrachtungsweise berührt ständig metaphysische Problemverhalte. So verleitet uns die immergleiche Form eines Ahornblattes, hierbei eine leitende Absicht am Werke zu sehen - mag es nun ein Gott oder (für aufgeklärtere Menschen) ein natürlicher Gesetzgeber sein, der einer blinden Kausalität die Richtung gewiesen haben müsse. Philosophen wie Aristoteles sahen in allem Gewordenen eine Entelechie, ein Streben nach Vollkommenheit, am Werk. 

Solche Unterstellungen eines Endzweckes oder einer Absicht (Finalität) gelten für D’Arcy Thompson als menschlich, allzumenschlich. Fruchtbar an einer derartigen Annahme sei jedoch, dass sich hier ein Erstaunen vor dem Unbegreiflichen ausdrückt (neben einem zu groben Erklärungs-Keil auf eine vielschichtige Problemlage). Thompson verzichtet auf vorschnelle Lösungen, die sich schon in der Begriffswahl ankündigen; stattdessen nimmt er die Erscheinungsform der Gegenstände selbst ernst. Diese Erkenntnishaltung hat etwas von der Husserl’schen Phänomenologie an sich, die die Bedeutung der Dinge selbst zum Sprechen bringen will. 

Das eigentlich Originelle aber an der hier zu umreißenden morphologischen Betrachtungsweise Thompsons liegt darin, dass er die Biologie mit dem Blick des Geometers konfrontiert. Seine wissenschaftliche Liebe zum Tier und auch zur Pflanze bis hinunter zu den schleimigen Formen frühen organischen Lebens verbindet sich mit der anders gearteten Blickweise des Mathematikers. Er mag die Schönheit einer Pflanze bewundern, bevorzugt aber dennoch die Eleganz mathematischer Strukturprinzipien: Wenn nun einmal die Blätter eines Baumes einander derart ähnlich sind, so fragt er sich, dann sollten wir zuerst das „Prinzip der Ähnlichkeit“ klären. Und dies unternimmt Thompson auf den ersten 15 Seiten. Dort heißt es im zweiten Absatz: 

„Die elementare Mathematik – und Archimedes selbst – lehrt uns, dass bei ähnlichen Figuren die Oberfläche im Quadrat und das Volumen in der dritten Potenz der linearen Dimensionen zunimmt. Wenn wir den einfachen Fall einer Kugel mit dem Radius r nehmen, so ist ihre Oberfläche gleich 4πr2 und ihr Volumen 4/3πr3. Es folgt daraus, dass …"

So weit haben wir eventuell alle noch die Anfangsgründe der Mathematik im Gedächtnis. Auf die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen, für „irgendeine lineare Dimension“ die Formel wiederzugeben, verzichte ich, um nicht alte Schultraumen zu reaktivieren. Unserem Verstehen hilft Thompson jedenfalls auf, indem er uns am Beispiel der Bewohner von Liliput Anschauungunterricht erteilt. Angewandt auf die Verpflegungsfrage ihres übergroßen Besuchers Gulliver befanden „die Minister seiner Majestät, dass dessen Größe die ihre im Verhältnis 12:1 übertraf, und sie schlossen aus der Ähnlichkeit ihrer Körper, dass der seinige mindestens 1728 oder 123 der ihrigen enthalten und dementsprechend verköstigt werden müsse.“ Weiteres Lob für Jonathan Swifts Vertrautheit mit elementarer Mathematik samt Kritik an den Mutmaßungen früher Biologen über ebensolche Größenverhältnisse in der Vogelwelt lese man am besten selbst in der Fußnote zu obigem Zitat in Wachstum und Form nach.

In den darauf folgenden Kapiteln will Thompson zeigen, wie in der morphologischen Betrachtung der Riesen und Zwerge im organischen Reich dieselben kosmischen Kräfte in Rechnung zu stellen sind, wie sie auch seit Galilei und Kopernikus zur Erklärung der Dynamik des Himmelsgewölbes mit seinen Sonnensystemen herangezogen wurden. Darin zeigt sich ein doppelbödiger Sachverhalt. Das forschende Bewusstsein befreit sich von manchem falschen Glauben, indem es die Gesetzmäßigkeiten namhaft macht, denen alle Materie einschließlich der des Menschenleibes unterworfen ist. Der erforschte Gegenstand in seinen astronomischen Dimensionen gerät hierbei unter unsere gedankliche Hoheit. Wir räumen in mente (im geistigen Bewusstsein) diesen Naturmächten ihre Herrschaft ein.

Was von mir hier angedeutet wird, betrifft nicht mehr nur die Formthematik auf dem vom Verfasser betrachteten Felde. Wo sehe ich als Psychotherapeut die praktischen oder theoretischen Nutzanwendungen dieser Lektüre? Mich hat D’Arcy Wentworth Thompsons Herangehensweise in der Vermutung bestärkt, dass unsere Verständnisprobleme in der Medizin, Psychologie und Psychotherapie oft in den selbstverständlich scheinenden Randbedingungen der menschlichen Existenz verborgen sind.

In unserem Beruf geht es, um im Bilde zu bleiben, um persönliches Wachstum. Das war ein Mann!, heißt es bewundernd über Thompson im ersten Geleitwort - eine Aussage, der ich mich anschließe. Auch das Nachwort spricht von den Bedingungen seiner wissenschaftlich-intellektuellen Größe. Dort heißt es über die Umstände seiner Geburt, dass neben all die guten Feen, die Pate am Wochenbett gestanden hätten, zuletzt noch Atropos getreten sei. Als eine der drei Schicksalsgöttinnen (griechisch: Moiren) habe sie den Lebensfaden der jungen Mutter durchschnitten. Diese starb nach der Geburt des Knaben im Kindbettfieber, und damit sei das Übermaß an großen Gaben begrenzt worden. Der Säugling wuchs bei den Großeltern unter Obhut der älteren Schwester auf.

Das führte dazu, dass der Heranwachsende neben seinem Altphilologen-Vater recht nah und intensiv einen Großvater erlebte, der Tiermediziner war. Diese beiden väterlichen Figuren haben wahrscheinlich (als vorbildhafte Randbedingungen des Daseins von D’Arcy Thompson) entscheidend zur späteren beruflichen, weltanschaulichen und stilistischen Ausrichtung des Forschers mit beigetragen. In D’Arcy Thompson begegnen wir einem Schriftsteller, Wissenschaftler und Sammler, der eine sehr eigene Kombination aus einerseits sinnlicher Betrachtung und andererseits abstrakt-mathematischer Einordnung der Natur verwirklichte und seine Forschungsergebnisse darüber hinaus in eine Sprache kleidete, der man ohne weiteres Eleganz und poetischen Wohlklang attestieren mag. Es steht zu vermuten, dass wir diese Idiosynkratie (eigentümliche Mischung) seines Lebens und den hohen Lektüre-Genuss seines Buches tatsächlich (auch) den hier angedeuteten existentiellen Rand- und Rahmenbedingungen des Daseins von D’Arcy Thompson zu verdanken haben.