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Wissenschaften

Künstliche Intelligenz und Hirnforschung. Neuronale Netze, Deep Learning und die Zukunft der Kognition

Autor*in:Patrick Krauss
Verlag:Springer, Heidelberg - Berlin 2024, 294 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:07.04.2024

Die Neurowissenschaft vom Gehirn hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ebenso rasant entwickelt wie die Künstliche Intelligenz (KI). Beide sind aufeinander bezogen und befruchten sich gegenseitig. Das Gehirn und seine Arbeitsweise bleibt der Maßstab für Künstliche Intelligenz, welche sich an Funktion und Struktur des Gehirns herantastet. Fortschritte auf diesem Gebiet ergänzen das Wissen um die Leistungen des Gehirns. Schon arbeiten Forscher an den Innovationen von morgen wie Generative KI, hybrides maschinelles Lernen oder neuro-symbolische KI. Es wächst die Befürchtungen, dass diese in nicht allzu ferner Zukunft den Menschen teilweise ersetzen könnten.

Schon jetzt wird Künstliche Intelligenz in immer mehr Bereichen eingesetzt, etwa in Medizin, Wissenschaft, Bildung, Finanzen, Unterhaltung einschließlich Literatur und Musik. Man kann damit Gesichter erkennen, Texte schreiben lassen, Musikstücke komponieren und Videos erstellen. Künstliche Stimmen können lange Texte vorlesen, und Gesprochenes kann in jede beliebige Sprache übersetzt werden. 

Was die Forschung angeht, sind die Ziele von KI und Neurowissenschaft komplementär. Ziel der KI ist es, gedankliche Leistungen auf menschlichem Niveau zu erreichen, und Ziel der Neurowissenschaft ist es, Funktion und Struktur des Gehirns immer besser zu verstehen. Während es viele Bücher über Neurobiologie einerseits und Künstliche Intelligenz andererseits gibt, fehlt es bislang an einer integrierten Darstellung von KI und Hirnforschung. Der Autor Patrick Krauss möchte mit diesem Buch die Lücke schließen. Er promovierte in Neurowissenschaften und habilitierte sich in Linguistik zum Thema Sprachverarbeitung in neuronalen Netzen. Für ihn läuft die Forschung auf eine Integration beider Disziplinen hinaus. 

Teil 1 des Buches beschäftigt sich mit der Funktionsweise des Gehirns, Teil 2 gibt einen Überblick über den Stand der Forschung in der Künstlichen Intelligenz, in Teil 3 werden die offenen Fragen und Herausforderungen beider Disziplinen dargestellt. Der Schwerpunkt von Teil 4 ist die Integration beider Forschungszweige. Komplexe Sachverhalte werden durch anschauliche Abbildungen verdeutlicht. Der Text im Niveau einer Universitätsvorlesung stellt allerdings einige Anforderungen an den Leser.

Nach wie vor dreht sich viel um die große Frage der Entstehung von Bewusstsein: Wie hängen mentale, geistige Zustände und Prozesse mit physikalischen Zuständen und Prozessen zusammen? Instinktähnliche Bedürfnisse äußern sich als Gefühle, die in Handlungen übersetzt werden, die wiederum dem Bewusstsein zugänglich sind. Bewusstsein ist eine inhärente Eigenschaft der Gehirnaktivität und kein eigenständiges Phänomen, das für sich existiert. Die Neurowissenschaft tendiert dahin, das Bewusstsein als ein graduelles Phänomen zu betrachten, das grundsätzlich auch bei Tieren auftreten kann. KI-Systeme werden effizienter lernen und Informationen verarbeiten können, wenn sie sich an dem modularen Aufbau des Gehirns orientieren. Der Computer wird einen Vorteil darin haben, mehr Informationen speichern zu können als das menschliche Langzeitgedächtnis.

Wird die KI die menschliche Intelligenz übertrumpfen? Wenn künstliche Intelligenz gänzlich intelligent wird, wird sie dann eine Art von Qualia entwickeln, subjektive Erfahrungen aus der Ich-Perspektive? Wird sich diese KI erfreuen können an Farbe, Geschmack und Klang, an Gefühlen und Gedanken? Wird sie lachen und weinen können? Wird ein KI-Roboter zu selbständigen Entscheidungen fähig sein, die unter ethischen Schutz zu stellen sind, ähnlich wie Tierrechte? 

Es reicht nicht, ein biologisches System zu kopieren. Wichtig ist, dass diese Kopie auch dieselbe Funktionalität hat wie das Original-Gehirn (S. 203). Wie weit soll diese Parallelität gehen? Sind darin auch alle Fehlschlüsse, Suggestionen, unbewussten Wünsche, unverstandene Vorurteile, Denkfehler und das unvermeidliche Vergessen mit enthalten? Nur so könnte ein tieferes Verständnis menschlicher Kognition erreicht werden. Oder besteht eine realistische Chance, anhand von computerbasierter Gehirnsimulation die Gehirnarbeit besser zu verstehen, um den Menschen und ihren Gehirnen funktionalere Routinen an die Hand zu geben, um dysfunktionale Ergebnisse zu vermeiden? 

Noch steckt die Forschung auf diesem Gebiet in den Kinderschuhen, betont Krauss. Es gehe eben nicht darum, die biologische Vorlage exakt zu kopieren, sondern stattdessen die zugrundeliegenden Mechanismen und Prinzipien zu erkennen. Möglicherweise hat ein computersimuliertes Gehirn kaum oder keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem biologischen Vorbild, kann dafür aber schneller und präziser rechnen als jeder Mensch. Und wollen wir überhaupt bewusste Maschinen (S. 246)? Krauss meint, „in den meisten Fällen werden wir jedoch höchstwahrscheinlich keine bewussten Maschinen haben wollen. Wie es einer meiner Kollegen einmal auf den Punkt brachte: Es ist kaum vorstellbar, dass wir einen Toaster möchten, der uns mitteilt, dass er gerade einen schlechten Tag hat und daher nicht bereit ist, das Frühstück zuzubereiten.“ (S. 244)

Das Niveau der Abhandlung ist wie gesagt recht hoch, „allgemeinverständlich“ kann man den Text nicht nennen. Die Lektüre setzt naturwissenschaftliches Wissen voraus. Der Autor hat gute Arbeit geleistet bei dem Versuch, Neurowissenschaft, Künstliche Intelligenz und Sprache in einem Buch zu integrieren. Wer diese zukunftweisenden Forschungen verstehen möchte, sollte es lesen.