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Wissenschaften

Ein Hof und elf Geschwister - Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben

Autor*in:Ewald Frie
Verlag:C. H. Beck, München 2023, 191 Seiten
Rezensent*in:Marlies Frommknecht-Hitzler
Datum:27.08.2023

Ein Hof und elf Geschwister ist eine etwas andere Geschichte der Bundesrepublik. Der Autor, Ewald Frie, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen. Mit diesem Buch hat er die Veränderungen im bäuerlichen Leben seit Ende des Zweiten Weltkriegs beschrieben. Er selbst ist 1962 als neuntes dieser elf Kinder in einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland geboren. Das erste Kind kam 1944 auf die Welt, das letzte 1969. Um dieses Buch zu verfassen, hat er seine Geschwister zu ihrem Leben und ihren Erfahrungen auf dem elterlichen Bauernhof befragt. Aber er recherchierte auch in Archiven, las das landwirtschaftliche Wochenblatt sowie andere zeitgenössische Literatur und Forschungsergebnisse zu seinem Thema. So versuchte er, Objektivität zu gewinnen. Frie nennt den Text einen „Grenzfall von Wissenschaft und Familiensinn. Meine Hoffnung ist, dass er gutes aus beiden Welten zusammenbringt“ (16). Heraus kam ein vielschichtiges Portrait seiner Familie, aber auch die Beschreibung der sozialen, ökonomischen und religiösen Lebensbedingungen und ihrer Veränderungen im landwirtschaftlichen Bereich Deutschlands.

Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte. Nach der Beschreibung der Lage der großen und kleinen Höfe um das Dorf Nottuln herum und des Verhältnisses ihrer Bewohner zum Dorf wird das Leben auf dem Hof beschrieben, bezogen auf den Vater, die Mutter und die späten, vom Auszug der Geschwister geprägten Jahre. Dabei liegt der Schwerpunkt zunächst auf den vier ältesten Geschwistern, gefolgt von den mittleren und schließlich den jüngsten.

Der Hof Frie besteht seit dem 17. Jahrhundert. Um 1900 verfügte er über 20 bis 30 Hektar Land. Vater Frie übernahm den Hof Ende der 1930er Jahre von seinen Eltern und heiratete 1943. Mit der Heirat übergab die Schwiegermutter die Wirtschaftsleitung an die Frau des jungen Bauern. Zum Hof gehörte Viehzucht und Getreideanbau. Frie war erfolgreicher Züchter von rot-buntem Vieh, das in dieser Gegend vorherrschend war. Als er 1972 den Hof an seinen ältesten Sohn übergab, spielte die Rinder-Zucht keine Rolle mehr. Sein Sohn verlegte sich auf die Schweinezucht und Ferkel-Produktion. Er baute den Hof zu einem „von Agrarexperten beschworenen  >Einmannbetrieb<“  um (140). Längst ist Vater Frie in Rente - einen Hoferben gibt es nicht; die Stallungen und Ländereien sind verpachtet.

Nach diesem Überblick über die Geschichte des Hofes interessieren uns natürlich seine Bewohner. Es war eine patriarchalische Welt. Grundsätzlich war es so, dass die Männer bzw. Jungen zuständig für Feldarbeit waren, für Kühe und Rinder, die Pferde und später für die Maschinen. Den Frauen und Mädchen oblagen Haushalt, Garten, Hühner, Schweine sowie Kühemelken, bis die Melkmaschine kam. Der Vater sagte zu seiner ältesten Tochter (1950 geboren), die sich über diese Aufteilung beschwerte und die dem Vater zeigen wollte, dass sie genauso gut arbeiten konnte wie die Jungen: „Jungs sind tausend Taler mehr wert!“

Vater Frie verkörperte den Hof mit seinen Strukturen und Aufgaben nach außen. In der Familie war er eher schweigsam. Er erwartete, dass die Arbeit korrekt erledigt wurde - wobei es nicht einfach war, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die großen Zuchterfolge des Vaters fielen in die 1950er Jahre. Wichtig waren für ihn vor allem die Züchtervereine, die Milchkontrollvereine und der monatliche Zuchtviehmarkt in Münster. In dieser Zeit betrieb er auch die großen Bauvorhaben auf dem Hof: die Tenne, den Kuhstall, die Pferde- und Rinderställe, das Schweinehaus. Es war die Zeit großer Investitionen.

War zunächst alles Handarbeit, die mit Hilfe von Knechten und Mägden bewerkstelligt wurde, verschwanden diese in den 1950er Jahren. Auch andere familienfremde Helfer wurden allmählich zu teuer. Die Technisierung mit Traktor, Mähdrescher, Melkmaschine in der Landwirtschaft und die Technisierung im Haushalt mit Heizung, Waschmaschine u.a. setzte ein. In dieser Zeit - ab den 1960er Jahren - verlor auch die Zucht an Bedeutung. Immer wichtiger wurde stattdessen die Milchleistung insgesamt: je mehr Kühe, desto mehr Milch und desto mehr Geld. Das bedeutete, dass die große Zeit des Vaters vorbei war. Die Veränderungen, die jetzt gefragt waren, konnte und wollte er nicht mehr mitmachen. Diese „Vaterzeit“ war besonders wichtig für die vier ältesten Geschwister.

Für die mittleren und jüngeren Geschwister war die Mutter bedeutsamer. Die Mutter war 12 Jahre jünger als der Vater. Er war stolz auf sie und ihre intellektuellen Fähigkeiten. Sie wirkte lebendiger, Anteil nehmender, wendiger. Die Eltern einigten sich „auf strikte Trennung der Zuständigkeitsbereiche. Jeder entschied in seinem Feld allein. Jenseits des Hofes war Vaters Bühne die Züchterwelt, Mutters die Kirchengemeinde“ (106). Als seine Welt unterging, konnte er ihre neidlos anerkennen. Zwar war ihre Arbeit nicht so gut dokumentiert wie die des Vaters. Man kann jedoch die Mutter durchaus als das Herz der Familie bezeichnen. Der Vater hatte wenig Sprache zur Verfügung. Die Mutter diskutierte mit ihren Kindern religiöse und moralische Fragen. Sie versuchte stets, sie zu verstehen. Wichtig war für sie die Bildung ihrer Kinder. Sie unterstützte sie emotional und tatkräftig bei anstehenden Aufgaben wie Bewerbungen oder Prüfungen. Beide Eltern vermittelten den Kindern, dass sie frei waren in ihren Entscheidungen, was Berufe und ihr späteres Leben betraf und betrifft.

Dies ist meiner Meinung nach ein bedeutsamer Faktor, der nicht in jeder Bauernfamilie eine Rolle spielte. Dennoch war das Leben der Kinder eingeschränkt: es war für die ersten sechs bis sieben Kinder der Hof und die Familie. Immer war die Mitarbeit der Kinder wichtig; der Hof wurde mit Hilfe der Kinder geführt, insbesondere in der Zeit der Handarbeit (50er Jahre), aber auch später mit den Maschinen, vor allem, als familienfremde Kräfte wegfielen. Allenfalls gab es Nachbarschaftshilfe bei besonderen Aufgaben wie Ernten, Dreschen, Schlachten.

Für die Kinder der Frie-Familie waren Hausaufgaben die einzige Alternative zu Hof- und Hausarbeit. Das führte zu einer weit überdurchschnittlichen Arbeitsbelastung, was vermutlich für alle Bauernkinder galt. Für die älteren Geschwister des Autors war dies die natürliche Folge der Zugehörigkeit zu Familie und Hof. „Nicht-arbeiten hätte bedeutet, die anderen im Stich zu lassen“ (46). Dennoch konnten alle elf Geschwister (außer dem Hoferben) andere Berufe erlernen und/oder die akademische Laufbahn ergreifen.

Die Familie Frie war eine katholische Familie, und insofern waren die Eltern ein wenig gefeit gegen die nationalsozialistische Ideologie. Der Nationalsozialismus und das Politische überhaupt waren eher Hintergrund. Zum gemeinsamen religiösen Leben gehörten selbstverständlich der Kirchgang sowie familiäre Rituale des Gebets und der Andacht (wie z.B. der Rosenkranz, Mai-Andachten zur Ehre der Mutter Gottes, Segnungen des Hauses). War der Vater eher konventionell katholisch, so war die Mutter eine tief religiöse Frau. Sie segnete die Kinder, wenn sie aus dem Haus gingen, sie zündete eine Kerze an, wenn eine Prüfung oder ein Vorstellungsgespräch anstand.

Später gelang ihr der Weg zu einem moderneren Katholizismus über Weiterbildung an Volkshochschulen und Akademien. Manche Rituale wurden aufgegeben oder individueller gestaltet. Die Mutter übernahm Verantwortung außerhalb der Familie wie die Gestaltung der Kindergottesdienste, des Kommunion- oder Firm-Unterrichts und der Arbeit im Pfarrgemeinderat. Eines der Kinder war besonders religiös ansprechbar und kam in ein bischöfliches Internat, das ihm eine gymnasiale Bildung ermöglichte – der Knabe sollte Priester werden. Nach sieben Jahren jedoch gab er auf; er hatte „eine Überdosis Katholizismus“ erhalten, die ihn flüchten ließ.

Frie resümiert, dass es vier sich überschneidende Welten gab, in denen seine Familie lebte. Die erste Welt war die verschwiegene des Nationalsozialismus, mit dem sie konfrontiert war. Nach Meinung des Autors haben sich die Eltern in dieser Zeit „weggeduckt“ und deswegen nie darüber gesprochen. Die zweite Welt war die Rinderzüchterwelt des Vaters, die in den 1950er Jahren eine große Bedeutung hatte und den Alltag prägte. Die dritte Welt war die des Reformkatholizismus, in dem sich vor allem die Mutter ihren Raum schuf, und der für die Kinder ein „Experimentierfeld“ für Selbstorganisation gewesen ist. Und die vierte Welt war die „Welt der Jugendkulturen und Events“, die in den 1980er Jahren begann und die den Eltern sehr fremd war. Der Langzeittrend, der sich in diesen Welten abzeichnet, ist (so der Autor) die stille und schnell verlaufende Auflösung einer bäuerlichen Gesellschaft.

Was Frie beschreibt, gilt in Abwandlungen für das bäuerliche Leben überhaupt. Die Rezensentin wuchs auf einem Bauernhof in einem Allgäuer Dorf auf und fühlte sich durch die Lektüre in ihre Kindheit zurückversetzt. Der Einsatz der Körperkraft in den 1950er Jahren, die Mitarbeit von Knechten und Mägden, die selbstverständliche Mitarbeit der Kinder, die ersten Maschinen auf dem Hof und im Haushalt, das Barfußlaufen vom Frühjahr bis Herbst, die Distanz zum Dorf, die Bedeutung der Katholizismus – all das ist mit ihrem Aufwachsen in den 1950er und 1960er Jahren verbunden. Daran zu erinnern, ist das Verdienst von Ewald Frie. Es ist nicht zu bedauern, dass die vielen Einengungen dieses Lebens verschwunden sind - aber dass das bäuerliche Leben so sehr den Agrarfabriken weichen musste, sehr wohl.