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Rezensionen
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Wissenschaften

Die Torheit der Regierenden - Von Troja bis Vietnam

Autor*in:Barbara Tuchman
Verlag:Fischer Verlag, Frankfurt am Main (4. Auflage 2006), 550 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:31.01.2019

„Die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort, durchzieht das Phänomen, dass Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft.“ (S. 11) Mit diesem Satz beginnt das Buch Die Torheit der Regierenden (1984) der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman (1912–1989). Sie wurde berühmt durch originelle historische, zeitgeschichtliche Publikationen. Besonders bekannt wurde ihr Buch über den Beginn des Ersten Weltkriegs unter dem Titel August 1914 (1962). Aber auch die groß angelegte Studie über das Mittelalter im 14. Jahrhundert, betitelt Der ferne Spiegel (1978), wurde überall viel gelesen. Diese Autorin erhielt zweimal den renommierten Pulitzer- Preis in den USA.

Anhand von vier ausführlichen Fallgeschichten möchte sie in Die Torheit der Regierenden – um dieses Buch geht es hier – die Frage beantworten, „Warum agieren Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft?“ Diese historischen Geschichten sind der Fall Trojas, das Erstarken der Reformation durch die Starrsinnigkeit der Päpste, die arrogante britische Politik, die zur Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonie führte, und die Niederlage der USA im Vietnamkrieg. „Töricht“ sei eine Politik dann, wenn es in der jeweiligen Zeit starke Gegenmeinungen gab, die vor den Gefahren warnten, ferner, wenn es praktikablere Handlungsalternativen gab, und drittens, wenn nicht nur ein Einzelner, sondern herrschende Gruppen kollektiv in die falsche Richtung rennen. Die von ihr herangezogenen Beispiele weisen allerdings nicht immer alle drei Kriterien auf. Des Ferneren behauptet sie, dass die menschliche Gattung keine Vorkehrungen und Schutzmaßnahmen gegen das Vordringen der Torheit in die Regierung getroffen habe (S. 15). Aber hat sich über vielfältige Versuche hinweg nicht die Staatsform der repräsentativen Demokratie herausgebildet, die sich über die gesamte westliche Welt verbreitete?

Einen weiteren Einwand gegen ihre Eingangsthese bringt Tuchman selbst vor: Was sich einst als Torheit zeigte, erweist sich in der Folge als nicht unbedingt negativ. Ob die Reformation insgesamt ein positives oder negatives Ereignis der europäischen Geschichte war, wird sicherlich unterschiedlich beantwortet werden. Wie alles Menschliche zwischen den Menschen bewertet wird, so lassen sich auch Torheit und Sturheit jeweils aus der Sicht der einen oder anderen Partei verschieden bewerten. Finden die Amerikaner die Torheit der Engländer bedauerlich, die ihnen die Unabhängigkeit brachte? Wäre es für die Bevölkerung der beiden Länder besser gewesen, Großbritannien hätte durch geschicktes Verhandeln Nordamerika als Kolonie behalten?

Die Autorin ist historisch gut bewandert, und so bringt sie auch einige Beispiele segensreicher Herrscher mit weitreichend vernünftigen Entscheidungen. Es sind also keineswegs „die Regierenden“, die grundsätzlich dumm sind. Starke und tatkräftige Herrscher, wie der Grieche Solon, sind selten, aber es gibt sie. Ein Platz unter den Großen gebührt George Washington, Marc Aurel, Julius Caesar, Hadrian, dem Deutschen Friedrich II., der Königin Elisabeth I. von England oder Kaiserin Maria Theresia von Österreich – alles Menschen mit außerordentlichem Geschick und großer Klugheit. Manchmal stellen sich Entscheidungen der Herrschenden sogar als weise heraus, beispielsweise der weitgehende Verzicht der Alliierten auf Reparationen nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg oder die Zurückhaltung der Amerikaner bei der Besetzung Japans. Der ägyptische Präsident Sadat gab die fruchtlose Feindschaft gegenüber Israel auf und suchte ein konstruktives Verhältnis zu Israel. Warum dann Tuchmans einseitige Eingangsthese?

Dennoch formuliert sie: Torheit ist ein Kind der Macht (S. 42). Aber stimmt das? Torheit ist ein Teil menschlicher Potenzialität. Auf Entscheidungsebene, betont Tuchman, potenziert sie sich und wird gefährlich. Richtig ist wohl, dass Macht einen bestimmten Menschentyp anzieht, der freilich nicht nur negative Eigenschaften aufweist. Gestaltungswillen und Durchsetzungskraft gehören dazu, aber nicht selten auch Größenwahn und Selbstüberschätzung. Macht korrumpiert nicht zwangsläufig, aber die Gefahr liegt nahe. Tuchmans Beispiel, die Eroberung Trojas, zeugt eigentlich weniger von der Torheit der Trojaner, das vergiftete Geschenk der Griechen, das große Holzpferd, in die Stadt zu ziehen, sondern von den nicht enden wollenden Intrigen der Götter, die die Menschen gegeneinander aufhetzen und sich auch selbst immer wieder Steine in den Weg legen. Hier muss eher von der Niedertracht der Götter gesprochen werden. Die amerikanische Regierung machte in der Vietnam-Politik massive Fehler, aber die Vietcong waren um keinen Deut besser. Als sie gewonnen hatten, verkam ihre Herrschaft zu einer brutalen Tyrannei. Sodann wären noch Situationen zu berücksichtigen, wo der Herrscher etwas Törichtes anstellt, was aber keine negative Folgen hat, weil irgendeine andere Entwicklung oder Entscheidung dies kompensiert. Oder aber ein kluger und weitsichtiger Herrscher dringt beim eigenen Volk nicht durch und wird als Feigling, Zögerer, Leisetreter und Schlappschwanz angesehen. Das Volk ist nicht selten so töricht, die Qualitäten seiner Regierung nicht erkennen zu können.

Überhaupt sind einzelne törichte Entscheidungen selten, jedenfalls nicht in Demokratien mit einer Gewaltenteilung. Vielmehr befinden sich alle Beteiligten in einem meist schwer zu überschauenden Beziehungsgeflecht, dessen Einzelteile sich gegenseitig beeinflussen, oftmals in einem nicht vorhersehbaren Sinne. Ob der Einzelne da klug oder dumm gehandelt hat, geht im Rauschen der Geschichte unter. Zudem sind Politiker, wie alle Sterblichen, zwischen die Pole Verantwortung und Zufall eingespannt. Sie sind niemals alleinige Akteure auf der Bühne. Allfällig auftretende Unzulänglichkeiten auf „Torheit“ zu reduzieren, geht an der Realität vorbei. Näher hätte es gelegen, von der Tragik der Regierenden und Herrschenden zu sprechen, die nicht selten in ein unentwirrbares Geflecht unübersichtlicher Zwänge eingebunden sind. Im Grunde genommen beschreibt Tuchman in ihren spannend zu lesenden Fallgeschichten genau das. Wie sie dann zu der allgemeinen, eingangs zitierten Schlussfolgerung kommt, bleibt einigermaßen unklar.

Tuchman stellt abschließend die Frage, wie sich ein Land vor der Dummheit in der Politik schützen kann, und ob es möglich ist, zum Regieren zu erziehen. Gibt es ein Erfolgsrezept gegen Korruption und Unfähigkeit? Platon zweifelte selbst daran, dass seine Idee vom „Philosophen auf dem Thron“ funktionieren wird. Er hoffte auf die disziplinierende Kraft guter Gesetze. Aber vielleicht sollte man vor allem die Wähler heranbilden, Integrität und Charakter zu erkennen und zu belohnen. Aber weil Torheit zum Menschsein gehört, so können wir nur weiterwursteln, wie in den vergangenen Jahrtausenden auch, was bedeutet, dass auch künftige Zeiten von Glanz und Niedergang, hochherzigen Unternehmungen und tiefen Schatten geprägt sein werden.