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Wissenschaften

Das ist Evolution

Autor*in:Ernst Mayr
Verlag:C. Bertelsmann, München 2001, 378 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:15.02.2023

Das Buch wendet sich an ein gebildetes Publikum und versucht, die Phänomene und Prozesse der Evolution zu erklären. Mayr (1904-2005), einer der weltweit bedeutendsten Biologen, hat sein ganzes Berufsleben der Evolutionsforschung gewidmet. Hier formuliert er eine sprachlich eingängige und gedanklich anspruchsvolle Zusammenfassung des Erkenntnisstandes seiner Disziplin.

Trotz immer wieder geäußerter Zweifel steht heute unwiderlegbar fest, dass Evolution stattgefunden hat und stattfindet. Der Autor skizziert die Entwicklung der Evolutionstheorie von der Antike über Lamarck und Darwin bis heute. Evolution ist nicht nur eine Idee oder eine Theorie, sondern der Name eines natürlichen biologischen Prozesses. Es wäre irreführend, schreibt Mayr (S. 336), die Evolution als „Theorie“ zu bezeichnen. Sie ist mehr als das – ein anerkanntes biologisches Ereignis.

Früher glaubten viele Wissenschaftler, die Evolution strebe nach Perfektion. Heute ist erwiesen, dass die natürliche Auslese tatsächlich in der Lage ist, all die erstaunlichen und wunderbaren Organe und Organismen hervorzubringen, die es in der Vergangenheit gab und heute noch gibt. Auch Charles Darwin hat keine Theorie der Evolution formuliert, sondern sie in vielen Details beschrieben.

Es stimmt, dass es Lücken in der Kette der Entwicklung der Lebewesen gibt. Diese Lücken entstehen durch Brüche in den fossilführenden Gesteinsschichten. Ein weiterer Grund für Lücken in der Evolutionskette ist die Tatsache, dass sehr frühe Lebewesen (vor etwa 670 bis 544 Millionen Jahren) sehr klein waren und kein Skelett besaßen. Wichtige Entwicklungsschritte sind jedoch durch Tausende von Fossilien hinreichend belegt.

Im Laufe der Jahrhunderte gab es zahlreiche Theorien und Vermutungen über den Verlauf der Evolution, die sich später als nicht haltbar erwiesen. Zu den widerlegten Thesen gehört die Vorstellung von der Evolution als einer aufsteigenden Leiter. Heute geht man davon aus, dass die evolutionäre Entwicklung einem Busch gleicht, von dem die meisten Äste abgestorben sind. Mit der Aufgabe der teleologischen Sichtweise musste auch die Vorstellung von der Vorhersagbarkeit der Evolution begraben werden. Die Evolution wird durch eine Vielzahl von Wechselwirkungen beeinflusst, die nicht vorhersehbar sind. Beispielsweise können in einer Region neue natürliche Feinde und Konkurrenten auftreten oder das Wetter kann sich ändern. Gelegentlich spielen auch einschneidende Ereignisse wie Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge eine Rolle. Zu den widerlegten Theorien gehören die Orthogenese, die Transmutation (die von Entwicklungssprüngen ausging) und die Vererbung erworbener Eigenschaften.

Darwins Lehre von Variation und Selektion wurde hingegen trotz aller Kritik bestätigt. Die Molekularbiologie hat wesentlich zum Verständnis des Evolutionsprozesses beigetragen. Die darwinistische Grundidee von Variation und Selektion blieb davon jedoch unberührt. Auch die Erkenntnis, dass Nukleinsäuren die Träger der Erbinformation sind, erforderte keine Änderung der Evolutionstheorie. Es bleibt bei der Entstehung von Varianten und deren natürlicher Auslese als den beiden grundlegenden evolutionären Prozessen. Mutationen sind die wesentliche Quelle neuer genetischer Variationen in einer Population.

Irgendwann in der Evolution entstand das menschliche Bewusstsein. Es ging aus dem Bewusstsein der Tiere hervor. Bewusstsein ist keine ausschließlich menschliche Eigenschaft, sondern auch bei Tieren weit verbreitet. Umstritten ist, wie weit „unten“ im Tierreich solche Anzeichen von Bewusstsein nachzuweisen sind (S. 244). Vielleicht lassen sich sogar die Vermeidungsreaktionen mancher wirbelloser Tiere in diese Kategorie einordnen. Das Bewusstsein des Menschen ist nur der am weitesten entwickelte Endpunkt einer langen Evolutionsgeschichte. Der Mensch ist nicht „etwas ganz anderes“ als der Rest der Schöpfung.

Die Abstammung des Menschen vom Affen ergibt sich aus den weitgehenden Übereinstimmungen im Körperbau, insbesondere mit den Schimpansen. Einige ausschließlich menschliche Merkmale betreffen die Proportionen von Armen und Beinen, die Beweglichkeit des Daumens, die Körperbehaarung, die Pigmentierung der Haut und die Größe des Zentralnervensystems, insbesondere des Vorderhirns (S. 288). Es wurde festgestellt, dass die Moleküle des Menschen denen der Schimpansen ähnlicher sind als vergleichbare Moleküle anderer Lebewesen. Die Verzweigung von den Menschenaffen zum Menschen fand vor etwa sechs bis acht Millionen Jahren statt. Auch die Bonobos sind dem Menschen sehr ähnlich, aber das bedeutet nicht, dass die Bonobos unsere Vorfahren waren. Die einzelnen Schritte vom Schimpansen zur Gattung Homo sind nicht belegt.

Der aufrechte Gang und der Gebrauch von Werkzeugen gelten heute nicht mehr als Alleinstellungsmerkmale des Menschen. Auch Schimpansen und in Ansätzen sogar Rabenvögel benutzen Werkzeuge. Sie stellen aber keine Werkzeuge aus bearbeiteten Steinen her. Ein entscheidender Unterschied ist die Beherrschung des Feuers. Das Feuer gab Wärme und Schutz und diente zum Kochen. Der Zeitpunkt der Zähmung des Feuers ist ungewiss. Die Größe des Gehirns nahm zu und hatte sich beim Homo erectus bereits mehr als verdoppelt. Der Geschlechtsdimorphismus verringerte sich von 50 Prozent auf etwa 15 Prozent mehr Körpergewicht beim Mann. Die Zähne wurden deutlich kleiner, die Arme kürzer und die Beine länger. Die stetige Zunahme des Gehirnvolumens wird mit einer Zunahme von Erfindungsreichtum und Anpassungsfähigkeit gleichgesetzt.

Das Gehirn des Homo sapiens hat sich seit etwa 150.000 Jahren nicht verändert. Mit diesem Gehirn vollzog sich der kulturelle Aufstieg vom einfachen Jäger und Sammler zur städtischen Zivilisation und zur wirtschaftlichen Globalisierung. Der aufrechte Gang und der Gebrauch von Werkzeugen galten einige Jahrzehnte lang als die wichtigsten Wesensmerkmale des Menschen. Heute gelten die Größe des Gehirns, der Gebrauch des Feuers und die Sprache als genuin menschliche Eigenschaften. In dieser Hinsicht ist der Mensch einzigartig. Tiere haben Organe, mit denen sie Signale aussenden und empfangen können. Das ist noch keine Sprache, denn dazu gehören Syntax und Grammatik. In den Milliarden von Nervenzellen des menschlichen Gehirns muss die Bereitschaft vorhanden sein, sich sprachliche Regeln anzueignen. Kein anderes Lebewesen hat diese Fähigkeit. Dieses Gehirn hat letztlich die Entwicklung von Kunst, Literatur, Mathematik und Naturwissenschaften ermöglicht. „Denken und Intelligenz sind bei warmblütigen Wirbeltieren (Vögeln und Säugetieren) weit verbreitet. Aber die Intelligenz des Menschen scheint selbst die der intelligentesten Tiere um Größenordnungen zu übertreffen.“ (S. 210)

Mayr erklärt schnörkellos und verständlich. Fachtermini sind nachvollziehbar erklärt, ebenso glänzt das Werk durch eine Fülle von Abbildungen. Ein ausführliches Glossar, eine umfangreiche Literaturliste sowie kurze Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Thema Evolution runden dieses bemerkenswerte Buch des führenden Darwinisten der Neuzeit ab. Wer sich mit der Evolution auf unserem Planeten, den Fragen nach dem Ursprung des Lebens und den Ursachen für die Entwicklung und Veränderung der vielfältigen biologischen Formen bis hin zur Evolution des Menschen beschäftigen will, sollte dieses Buch lesen.