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Wissenschaften

Bipersonalität, Psychophysiologie und Anthropologische Medizin – Paul Christian zum 100. Geburtstag

Autor*in:Wolfgang Eich (Hrsg.)
Verlag:Königshausen & Neumann, Würzburg 2014, 304 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:01.10.2014

Paul Christian (1910-1996) gehörte zur Gruppe der Heidelberger Schule der Psychosomatik, die neben ihm so illustre Namen wie Ludolf von Krehl, Viktor von Weizsäcker, Richard Siebeck und Alexander Mitscherlich aufzuweisen hatte. Unbestrittener Initiator und lange Jahre dominierender Geist war der Internist und Physiologe Ludolf von Krehl, der als anfangs überzeugter Naturwissenschaftler mit dem Credo „Krankheiten als solche gibt es nicht, wir kennen nur kranke Menschen“ die Forschungsrichtung und den klinischen Spirit der Heidelberger Gruppierung bestimmte. Von ihm stammt auch folgende methodologische Ausrichtung der Medizin:

Die Weiterbildung liegt, soviel ich sehe, in dem Eintritt der Persönlichkeit als Forschungs- und Wertungsobjekts in die Medizin, das aber bedeutet Wiedereinsetzung der Geisteswissenschaften und der Beziehungen des ganzen Lebens als andere und der Naturwissenschaft gleichberechtigte Grundlage der Medizin.

Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich Krehl und in seiner Nachfolge Weizsäcker, Siebeck, Paul Christian und andere mit der Diagnose und Therapie nicht nur von Krankheiten, sondern von kranken Menschen und damit mit der Erforschung von Person, Individualität und Biographie in ihren Bezügen zu Krankheit und Gesundheit des Einzelnen. Die daraus entstandene Form der Heilkunde nannten sie zu Recht eine anthropologische Medizin, also eine den Menschen in seinen diversen biomedizinischen, psychosozialen und soziokulturellen Facetten begreifende, einordnende und behandelnde Heilkunde.
Diese Form der Medizin wurde von Richard Siebeck in seinem Hauptwerk Medizin in Bewegung (1949) weiter ausgeführt. Siebeck, der 1931 die Nachfolge Krehls antrat, stellte die anthropologische Medizin und Psychosomatik in einen weiten kulturellen Rahmen. Kant, Goethe, Jacob Burckhardt, Max Scheler, Sigmund Freud und C.G. Jung wurden von ihm neben den Klinikern Bernhard Naunyn und Ernst von Leyden oder dem Physiologen Johannes Müller anerkennend zitiert und rezipiert:

Eine klinische Pathologie … hat sich zu beschäftigen mit Persönlichkeit und Schicksal der Kranken. Bedeutungsvoll sind dabei die psychischen und die somatischen Zusammenhänge, die Beziehungen zur Vergangenheit wie zur Umwelt … Das Individuum mit seinen komplexen Zusammenhängen lässt sich eben nicht in Tabellen, Formeln und Regeln auflösen, es verlangt vielmehr eine biographische Betrachtungsweise.

Siebeck hat an einer großen Zahl von Fallgeschichten die Vorzüge und Ergebnisse seiner biographischen Methode demonstriert. Minutiös wurden von ihm soziale und seelisch-geistige Lebensereignisse von Patienten aufgezeichnet und mit deren somatischen Erkrankungen korreliert. Damit konnte er die Ärzteschaft auf die vielfältigen biographischen Beziehungen und Zusammenhänge aufmerksam machen, innerhalb derer Krankheiten entstehen und verlaufen.

Noch umfassendere philosophische und tiefenpsychologische Horizonte als Krehl und Siebeck wies Viktor von Weizsäcker auf. Er war Neurologe und Internist, beherrschte physiologische Untersuchungs- und Forschungsmethoden und war in den Bannkreis Sigmund Freuds und der Psychoanalyse geraten. Weizsäcker kombinierte biographische Methoden Siebecks mit der tiefenpsychologischen Technik Freuds und amalgamierte diese mit somatischen Befunden zur anthropologischen Medizin. Anhand von Fallgeschichten gelang es ihm, Organkrankheiten als Äquivalent von existentiellen Krisen der betreffenden Patienten darzustellen:

Eine Situation ist gegeben, eine Tendenz kommt auf, eine Spannung steigt an, eine Krise spitzt sich zu, ein Einbruch der Krankheit erfolgt und mit ihr, nach ihr ist die Entscheidung da; eine neue Situation ist geschaffen und kommt zu einer Ruhe; Gewinne und Verluste sind jetzt zu übersehen. Das Ganze ist wie eine historische Einheit. Wendung, kritische Unterbrechung, Wandlung sind hier im dramatischen Ganzen zu erkennen.

Körperliche Prozesse und Störungen wurden von Weizsäcker also als Äquivalente und nicht als Folgen eines lebensgeschichtlichen Vorgangs verstanden. Zwischen psychisch-geistigen Prozessen und somatischen Veränderungen bestand für ihn kein kausales Verhältnis im Sinne von Ursache und Wirkung. Seele und Leib bedeuteten ihm vielmehr zwei Seiten einer Medaille, die sich in ihren Ausdrucksmöglichkeiten ergänzen und vertreten können (Aspektdualismus).

Der Arzt befindet sich wie in einer Drehtüre, die ihn abwechselnd in zwei Räume führt, ohne dass er in beiden gleichzeitig sein könnte. Für ihn wechseln die seelischen und körperlichen Räume seiner Patienten, wobei einer von ihnen dem Untersucher im jeweiligen Moment unsichtbar und verborgen bleibt. In seiner wichtigsten Schrift Der Gestaltkreis – Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (1940) hat Weizsäcker dieses Drehtürprinzip und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Leib-Seele-Problem beschrieben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat Paul Christian die Nachfolge von Viktor von Weizsäcker an und hatte dessen Lehrstuhl in Heidelberg von 1958 bis 1977 inne. Auch er vertrat die Grundsätze der anthropologischen Medizin, die den Patienten nicht mehr als Objekt ärztlichen Handelns sieht, sondern als Subjekt, das in persönliche Beziehung mit seinem Arzt eintritt. 1946 war Weizsäcker Leiter der neu etablierten Abteilung für Allgemeine Klinische Medizin an der Heidelberger Universität geworden, aus der die heute noch bestehende Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik hervorging. Paul Christian als sein Nachfolger legte den Grundstein für eine interdisziplinäre Heilkunde, die weit in die Geistes- und Kulturwissenschaften hineinreichte.

Paul Christian ist in Heidelberg geboren und studierte dort Medizin. Viktor von Weizsäcker habilitierte ihn in den Fächern Innere Medizin und Neurologie und nahm ihn während des Zweiten Weltkriegs nach Breslau an eine große neurologische Klinik mit. Hier und dann später zurück in Heidelberg widmete sich Paul Christian zuerst der Psychophysiologie, die Weizsäcker mit seinen Gestaltkreis-Experimenten angestoßen hatte. Des Weiteren gehörte Christian zur Gruppe jener Ärzte, die als Vorläufer einer personalen, den Person-Begriff berücksichtigen Medizin gelten. Hierbei galt sein besonderes Augenmerk der Bi-Personalität von Arzt und Patient – also der Arzt-Patienten-Beziehung. Das vorliegende Buch, das aus einer Tagung zum 100. Geburtstag Paul Christians hervorgegangen ist, informiert über dessen Leben und Werk überaus solide und vielseitig und beleuchtet gekonnt eine wichtige Gestalt der Heidelberger Schule der Psychosomatik und anthropologischen Medizin.