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Rezensionen Tiefenpsychologie
und Kulturanalyse

Tiefenpsychologie

Sigmund Freuds figürliche Psychoanalyse – Der „Moses“ Michelangelos und die Sammlung von Idolen

Autor*in:Horst Bredekamp
Verlag:Schwabe Verlag, Basel 2023, 160 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:21.07.2023

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp (geboren 1947), Professor am Institut für Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, befasst sich seit Jahrzehnten mit der Wahrnehmung und Interpretation von Bildern und Skulpturen; bekannt wurde er in diesem Zusammenhang vor allem mit seiner Bildakt-Theorie, die er in Der Bildakt (Berlin 2015) ausführlich erläuterte. Dabei kam Bredekamp auch immer wieder in Kontakt mit der Psychoanalyse, so dass er den 2001 an ihn verliehenen Sigmund-Freud-Preis nicht nur für die herausragende Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa, sondern auch für so manche inhaltlichen Bezugnahmen zur Psychoanalyse erhielt.

In dem hier angezeigten Buch taucht Bredekamp nun tief in die Biographie Sigmund Freuds sowie in die ersten und frühen Jahrzehnte der Psychoanalyse ein. Dabei interessieren ihn vorerst die Rom-Reisen Freuds, bei denen dieser sich nach und nach zunehmend mit Michelangelo und speziell mit dessen Moses-Gestalt auseinandergesetzt hat. An dieser Plastik glaubte der Begründer der Psychoanalyse einen Teil seines eigenen Schicksals und Charakters wiederzuerkennen; vor allem mit dem gebändigten Zorn-Affekt der Moses-Figur konnte sich Freud identifizieren.

Dem Moses ähnlich, der mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai zurückkommend erkennen musste, dass die Israeliten inzwischen ein goldenes Kalb geschaffen hatten und dieses anbeteten, hatte er (Freud) in der Psychoanalytischen Vereinigung eine Menge Abweichler und Treulose (z.B. Adler, Stekel, Jung) zu gewärtigen, die seiner Meinung nach ebenfalls goldene Kälber anbeteten und die reine Lehre der Psychoanalyse verraten hatten.

Die Reisen nach Rom sowie die Beschäftigung mit dem Moses des Michelangelo, aus der 1914 die gleichnamige Abhandlung Freuds hervorgegangen ist, ermöglichten dem Begründer der Psychoanalyse eine Bearbeitung seiner damaligen Lebenssituation. Als Leiter der Psychoanalytischen Vereinigung spürte Freud die Gefahr, die von den Renegaten in Wien und Zürich für die psychoanalytische Bewegung ausging, und die Beschäftigung mit dem Moses-Mythos ermöglichte es ihm, diese Situation einzuordnen und damit für sich etwas zu entschärfen. Nicht ein bloßes Ausagieren seines heiligen Zorns über die Abweichler, sondern ein Transformieren dieser Emotion in Energie und Tatkraft für den weiteren Auf- und Ausbau der Psychoanalyse war ein wichtiges Resultat, das Freud von seiner Rom-Reise 1913 mit nach Hause nahm.

Für Bredekamp zeichnet sich in Freuds intensiver Beschäftigung mit Michelangelo und dessen Moses-Darstellung noch ein anderes Motiv ab, das eine Entsprechung im Wiener Ordinations- und Arbeitszimmer Freuds hatte. Es ist bekannt, dass der Vater der Psychoanalyse ein begeisterter Sammler von unterschiedlichsten antiken Skulpturen (Gottheiten, Faune, Heroen, mythologische Fabelwesen etc.) und deren Abbildungen war, und dass er sowohl in seinem Sprech- als auch in seinem Arbeitszimmer Dutzende, wenn nicht Hunderte davon für ihn wie auch für seine Klienten und Patienten sichtbar aufgestellt hatte – eine offensichtliche Sammlung von Idolen.

Moses war über die Israeliten unter anderem auch deshalb derart erzürnt, weil sie sich mit dem goldenen Kalb über das Bilder-Verbot hinweggesetzt und damit einen Gott sichtbar – also zum Objekt – gemacht hatten. Vor diesem Hintergrund (schreibt Bredekamp) gewinnt Freuds Besessenheit, sich unentwegt mit kleinen Idolen zu umgeben, ihre befreiende Qualität. Wenn in Freuds Sprechzimmer wie auch in seinem Arbeitsraum eine überwältigende Fülle von Bildwerken den Raumcharakter definierte, dann verkündete sie auf einen Schlag: Das Bilder-Verbot gilt nicht. Jener Schuldkomplex, der sich im Unbewussten aus der Erinnerung an den Tanz um das goldene Kalb … aufbaute, verlor in diesem Wald von Idolen seine Geltung (S. 127).

Gemeinhin wird Freud und der Psychoanalyse ein merklich agnostisch-atheistischer Grundzug attestiert. Bredekamp sieht in Freuds Idolen-Sammlung diese weltanschauliche Orientierung bestätigt, so als ob der Wiener Seelenarzt seinen Patienten signalisieren wollte, dass er sich bei aller Abstammung vom Judentum von dessen religiösen Vorgaben (z.B. Bilder-Verbot) längst schon emanzipiert hatte – und dies modellhaft seinen Analysanden vorlebte. Darüber hinaus setzt Freuds figürliche Psychoanalyse so manches Fragezeichen hinter ein a-figürliches, abstraktes und nur auf das Wort und nicht auch auf das Bild bauendes Interagieren zwischen Analytiker und Klient. Der Vater der Psychoanalyse war auch in dieser Hinsicht unkonventioneller als manche seiner orthodoxen Adepten, die meinten, dem Bilder-Verbot strikt Folge leisten zu müssen. Wie schön, dass Horst Bredekamp mit seinem unorthodoxen Blick auf die frühe Geschichte der Psychoanalyse und auf die Bildakt-Qualitäten von Sigmund Freud dergleichen sichtbar gemacht und wieder in Erinnerung gerufen hat.