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Rezensionen Tiefenpsychologie
und Kulturanalyse

Tiefenpsychologie

Der Osten und das Unbewusste

Autor*in:Andreas Petersen
Verlag:Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 349 Seiten
Rezensent*in:John Burns
Datum:04.04.2024

Die historische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse nach 1939 beschränkte sich bisher auf die USA und Großbritannien, wohin die von den Nationalsozialisten bedrohten Therapeuten und Therapeutinnen geflohen waren. Ein weiteres Thema in der Aufarbeitung der Geschichte der Psychoanalyse betraf die innere Emigration der Tiefenpsychologen und –psychologinnen während des Nationalsozialismus, die z. B. am Göring-Institut in Berlin eine modifizierte Form der Psychotherapie praktizierten (Lockot 1985).

Mit der Darstellung der Psychotherapie in der BRD nach Kriegsende schien die Geschichte der Psychoanalyse in der Emigration schon abgeschlossen zu sein. Vieles von der politischen und sozialen Brisanz der Psychoanalyse ging im US-amerikanischen Exil verloren, als die Theorie zu einer medizinischen Behandlungstechnik wurde und in dieser Form in die BRD reimportiert wurde.

Die Recherchen, die Andreas Petersen zu einem gut lesbaren Narrativ über das Schicksal der Psychoanalyse im Osten verarbeitet hat, dokumentieren die Gefahren, denen sich Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen aussetzten, wenn sie glaubten, ihre neue Wissenschaft und Heilkunst in Ländern wie Ungarn oder der Sowjetunion unbehelligt praktizieren zu können. Hierbei ging es nicht so sehr um Fragen der Behandlungstechnik oder der Laienanalyse wie z.B. in den USA, sondern um die Tragik idealistisch gesinnter Praktiker einer neuen Heilmethode, die sich bald in Lebensgefahr befanden. 

Im Vergleich zu den Kollegen und Kolleginnen, die rechtzeitig von Europa in die USA aufbrachen, erwies sich die Entscheidung derer, die ihr Lebensglück im Sozialismus suchten, als fatale Fehleinschätzung ihrer Möglichkeiten. Glücklich konnten sich diejenigen wähnen, die wie Alfred Adler Wien rechtzeitig verließen, um in den USA oder Großbritannien ein neues Leben zu beginnen. Wie anders erging es den Analytikern und Analytikerinnen, die in ihrer jeweiligen Heimat verblieben, oder die nach überstandener Gefahr durch die Nationalsozialisten im Strudel der Revolutionen erneut um ihr Leben bangen mussten.

Wer sich z.B. in Ungarn dem Kampf der Sozialisten oder Kommunisten um eine gesellschaftliche Erneuerung angeschlossen hatte, wurde bald von der politischen Realität eingeholt, in welcher der freiheitlich gesinnte Mensch kaum eine Überlebenschance hatte. Analytiker und Analytikerinnen, die in Moskau praktizieren wollten,  erfuhren ziemlich bald, dass die Sowjetunion ein Polizeistaat war, in dem der Mythos vom Neuen Menschen im krassen Gegensatz zur Willkürherrschaft der Bolschewisten stand.

Andreas Petersen, Experte für Allgemeine Geschichte, Osteuropäische Geschichte und Germanistik, berichtet ganz sachlich vom Lebensweg der Analytiker und Analytikerinnen, die in Ungarn und der Sowjetunion dem Stalinismus zum Opfer fielen. Wer etwa mit dem Leben Alfred Adlers vertraut ist, wird vom Schicksal seiner Tochter Valentine betrübt sein, die in einem russischen Arbeitslager ums Leben kam. Valentine teilte anscheinend die Auffassung ihrer Mutter Raissa Epstein, die in Wien den Umgang mit Trotzki und seinen Anhängern pflegte und vom Gelingen der gesellschaftlichen Umwandlung in Russland überzeugt war. 

Adler dagegen warnte spätestens ab 1918 vor den ideologischen Versprechungen des Bolschewismus. Als Militärarzt im Ersten Weltkrieg hatte er Zeit genug gehabt, über die schrecklichen Auswirkungen des Imperialismus auf die Kultur Europas nachzudenken. In seinem Aufsatz Bolschewismus und Seelenkunde warnte er ausdrücklich vor jedem leichtsinnigen Versuch, die utopischen Versprechungen des Sozialismus in autoritärer Form einzulösen. Eine Aufarbeitung des Machtstrebens in der westlichen Kultur habe, so Adler, kaum stattgefunden. Der Sozialismus, so sehr Adler die Idee der Gleichberechtigung gefallen habe, könne nicht im Stile des Bolschewismus mittels Repressionen und Unterdrückung politischer Gegner verwirklicht werden. 

„Der Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern das größte Massenverbrechen an der Zusammengehörigkeit der Menschen. Welche Summe von Lügen und künstlichen Aufstachelungen niedriger Leidenschaften, welche tausendfältige Vergewaltigung war nötig, um den entrüsteten Aufschrei der Menschheitsstimme zu unterdrücken? Der Sozialismus wurzelt zutiefst im Gemeinschaftsgefühl, er ist Urlaut der Menschheit, der Weltanschauung geworden ist, derzeit der reinste und praktikabelste Ausdruck des Gemeinsinns. Der Bolschewismus, das ist der Selbstmord des Gemeinsinns“ (Adler 1918/1982, S. 31). 

Wie Petersen aufzeigt, fielen beinahe alle Psychoanalytiker in Moskau dem Stalinismus zum Opfer, wenn sie nicht in den Westen flohen. Freud erfuhr von Nikolai Ossipow, dem ersten Psychoanalytiker Russlands, der 1918 nach Prag auswandern konnte, vom tragischen Schicksal seiner Lehre im menschenfeindlichen Sowjetstaat; Freud konstatierte befremdet:

„Es geht den Analytikern in Sowjetrussland übrigens recht schlecht. Irgendwo haben die Bolschewiken die Meinung gefangen, dass die Psychoanalyse ihrem System feindlich gesinnt ist. Sie (Ossipow, JB) kennen die Wahrheit, dass unsere Wissenschaft sich überhaupt nicht in den Dienst der Partei stellen lässt, selbst aber zu ihrer Entwicklung einer gewissen Freiheitlichkeit bedarf“ (Petersen 2024, S. 108). 

Wo die „gewisse Freiheitlichkeit“ fehlt, kann die Tiefenpsychologie nicht florieren. Nicht nur das Konzept des Unbewussten musste von den Parteigenossen in Moskau bekämpft werden, weil die Kollektiv-Planung einer Sozietät absolute Kontrolle über das Individuum voraussetzt; darüber hinaus streben die Psychoanalyse und die Individualpsychologie nach der Emanzipation des Menschen und der Förderung seiner Personalität - Entwicklungsziele, die eine politische Kaste in totalitär-diktatorischen Staaten als extreme Bedrohung empfinden musste. 

Die Konditionierungsversuche Iwan Pawlows (1849-1936) kamen der Ideologie des Bolschewismus eher entgegen und griffen auf Aspekte des materialistisch-mechanistischen Menschenbildes des französischen Aufklärers Julien Offray de la Mettrie (1709-1751) zurück, dessen Hauptwerk Der Mensch als Maschine (L‘Homme Machine) heißt. Petersen wählt daher die treffende Überschrift „Leben ohne Emotion“, um die Forschung des späteren Nobelpreisträgers Pawlow zu charakterisieren. Auch in der DDR nach 1945 avancierte die Reflexologie zu einem anerkannten Wissenschaftsmodell in den Humanwissenschaften (Petersen 2024, S. 185 f.). 

Aufgrund seiner seriösen Recherche-Arbeit kann die Untersuchung Petersens nicht auf eine platte Ost-West-Diskussion bezüglich der Akzeptanz der Tiefenpsychologie in den USA und in Europa reduziert werden. Das Buch fordert uns heraus, über eigene Vorurteile bezüglich der heutigen Theorie und Praxis der Tiefenpsychologie zu reflektieren. Als Ergänzung und Vertiefung der Thematik, die Petersen historisch abhandelt, empfehle ich die Bücher Erich Fromms, welche die soziale und anthropologische Bedeutung der Psychotherapie behandeln. Fromm griff in seiner letzten Schaffensperiode sozialphilosophische Themen wie Aggression und menschliche Natur auf, mit denen er sich schon 1941 in Die Furcht vor der Freiheit auseinandergesetzt hatte. Der Osten und das Unbewusste eignet sich für Psychotherapeuten und -therapeutinnen, welche die kulturelle Reichweite ihrer Disziplin besser verstehen wollen.   

Literatur:

Adler, A.: „Bolschewismus und Seelenheilkunde“ (1918). In: Alfred Adler. Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze. Bd. I 1919-1929, Fischer, Frankfurt a. Main, 1982.
Fromm, E: Die Anatomie der menschlichen Destruktivität. GA Bd. VII, DTV, München 1989.
Lockot, R.: Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Fischer, Frankfurt a. Main 1985. 
Petersen, A.: Der Osten und das Unbewusste. Klett Cotta, Stuttgart 2024.
Rattner, J.: „Psychologie des Nationalsozialismus“. In: Aufsätze aus drei Jahrzehnten über personale Psychologie, Therapie und Kulturanalyse. Bd. II, Verlag für Tiefenpsychologie, Berlin  2018, 67-82.