49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Philosophie

Wozu? Eine Philosophie der Zwecklosigkeit

Autor*in:Michael Hampe
Verlag:Hanser Verlag, München 2024, 224 Seiten
Rezensent*in:Annette Schönherr
Datum:02.04.2024

Michael Hampe (*1961) studierte Philosophie, Literaturwissenschaften, Psychologie und Biologie in  Heidelberg und Cambridge. Nach Professuren in Dublin, Kassel und Bamberg lehrt er seit 2003 an der ETH Zürich. Dabei beschäftigt er sich unter anderem mit der Prozessphilosophie des britischen Mathematikers Alfred North Whitehead und hat nun unter dem schlichten Fragewort Wozu? Eine Philosophie der Zwecklosigkeit verfasst. Für den ZEIT-Rezensenten Peter Neumann geht es hier wie nebenbei um das Eigentliche: Ein Innehalten und eine "Einübung im Aufatmen". Können wir ohne Zwecke wirklich besser leben? Nach Hampe: „Ja!“  Für ihn wäre ein geglücktes und gelingendes Leben eines, das sich vom Mandat oder sogar Diktat der Zwecke befreit wüsste. Aber wie soll das gehen? Diesem, seinem ersten Anliegen, folgt ein umfassendes und weitergehend gedachtes Ansinnen des Autors.

Damit wir so etwas wie Zwecke verfolgen können, bedarf es einer etwas schlicht formulierten „Aufmerksamkeit“, die gedacht ist als zielgerichtete Zweckverfolgung. In ihrer Wahrnehmung mag sie als scharf und konturiert erscheinen, aber durch ihren „Scheinwerferblick“ blendet sie die dem Menschen ebenso gegebene Fähigkeit zur Komplexität aus. Michael Hampe nimmt nun diese andere und nicht fokussierte, sondern gleichsam erweiterte Aufmerksamkeit (Kontemplation) in den Blick, die seines Erachtens umso schärfer ist, je weniger sie durch Zweckverfolgung eingeengt und verstellt wird.

Ursprünglich war das Wort „Sinn“ bei der Betrachtung von Geschichten von Bedeutung, in denen wir nach deren Sinn und Zweck suchen. Im Allgemeinverständnis wird Zwecklosigkeit mit Sinnlosigkeit gleichgesetzt. Reaktiv und durch eine entsprechende Interpretationsperspektive begünstigt, übertragen wir diese Einschätzung leichtfertig auf die eigene Lebensgeschichte. Diese einseitige Interpretation ist jedoch nicht universal gültig und auch nicht ständig in unseren Selbstbetrachtungen vorhanden, denn: Darüber hinaus gibt es auch sogenannte kontemplative Zustände, in denen wir ein Kunstwerk betrachten, Musik hören oder ziellos einen Spaziergang genießen. 

Der erste Teil des Buches lässt in seinem Schreibstil ähnlich einer Meditation an eine Selbsterkundung des Autors denken, der sich in Widersprüche verstrickt und immer wieder aus ihnen auszubrechen versucht. Als Leser haben wir teil an seinen autobiografischen Erfahrungen wie Kindheitserinnerungen, Albträumen oder auch dem Tod des Vaters. Diese Mitteilungen will der Autor als eine Philosophie der Zwecklosigkeit verstanden wissen, die auf Erfahrungen beruht, die wiederum als Voraussetzungen bestimmter Argumente erst plausibel werden. Nicht allein durch seine biologische Ausstattung, sondern durch alle möglichen sozialen Empfehlungen und Beurteilungen seien er selbst wie auch der eigene Vater in „Zweckgassen“ getrieben worden, die das eigene Leid durch die Selbstbefragung, ob denn die selbst vorgenommenen Zwecke oder diejenigen anderer erfüllt sind, sich verschärft haben. 

Für die Verzweckung der Aufmerksamkeit gibt es eine biologische Grundlage allein schon durch die Notwendigkeit von uns Menschen zur Nahrungsaufnahme oder zur sexuellen Orientierung, die allerdings über die Biologie hinaus auch kulturell überformt werden. Aristoteles wird hier als Urvater der Zweckmäßigkeit mit seiner Idee namhaft gemacht, dass Zwecke auf Ideale verweisen; bei Zwecken geht es immer um gut oder schlecht. Als Gegengestalt beruft sich Hampe auf den Philosophen Baruch de Spinoza, der in den Zwecken nur menschliche Zuschreibungen sah, die in der Natur als solche nicht vorhanden sind.

Das Verfolgen von Zwecken bedeutet in der Regel, es fehle einem etwas, und Zweckverfolgung habe mit mangelnder Macht zu tun. Spinoza formulierte einen neuen Gottesbegriff, der besagt, dass Gott (gleichbedeutend mit Natur) als allmächtigem Wesen nichts fehlt und er daher auch nichts erstrebt. Würde es uns Menschen gelingen, die Welt nicht bevorzugt durch unsere eigenen Interessen hindurch zu betrachten, so würde uns diese Perspektive vom Zweckstreben befreien. Wir sähen die Welt nicht mehr durch die Brille der Zwecke, sondern durch diejenige Gottes oder der Natur, wo alles als ein großes Spiel, ein großes Kunstwerk oder als ein großer Tanz erscheint, der auf nichts hinausläuft. 

Interessant und bedenkenswert ist auch der Gedanke, dass das Argumentieren eine Wurzel im Wettbewerb habe und agonal und kämpferisch insofern sei, als die Frage nach den besseren Argumenten immer etwas Hierarchisches beinhaltet: Wer setzt sich in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft mit den besseren oder „richtigen" Ziel- und Zwecksetzungen durch? Als Gegenpol zum Argumentieren verweist Hampe auf das Erzählen: Ein Erzähler stellt das ihm selbst Widerfahrene seinen Zuhörern nur dar und will sich mit seiner Geschichte nicht über sie erheben. Es ist eine begrüßenswerte und schöne Vorstellung, uns im gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Plaudern zu erzählen, was wir erlebt haben, was wir denken und was wir fühlen. Eine solche Erzählung ist Michael Hampe mit seinem neuen Buch durchaus gelungen.