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Philosophie

Wie wirklich ist die Wirklichkeit – Wahn, Täuschung, Verstehen

Autor*in:Paul Watzlawick
Verlag:Piper, München 2006, 256 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:01.01.2016

Seit 2000 Jahren beschäftigt die Philosophie die Frage, ob es eine Wirklichkeit an sich gibt und ob diese Wirklichkeit unverfälscht von den Menschen erkannt werden kann, oder aber ob unser Bild von der Wirklichkeit nicht immer ein kommunikativ vermitteltes und damit zumindest teilweise subjektives ist? Wenn die erste These der Fall ist, könnten wir Menschen die reine Wahrheit entdecken und empfinden. Wenn die zweite These richtig ist, stehen wir ebenfalls vor großen Problemen, wenngleich anderer Art. Es sind Probleme der Informationsvermittlung, die mit berücksichtigt werden müssen. Beide Thesen kämpfen aber mit dem gleichen Problem, nämlich der Frage, wie Tatsachen und Wirklichkeit zuverlässig erkannt werden können. Aber gibt es nicht noch eine dritte, vermittelnde Position, die besagt, dass „da draußen” die Wirklichkeit an sich existiert und es nur darauf ankommt, diese kommunikativ zu den Menschen hin zu vermitteln? Eine weitere Frage, die zuvor geklärt werden müsste ist, welche Gruppe von Tatsachen „da draußen” wir Menschen als Wirklichkeit definieren wollen?

Mindestens zwei Klassen wären zu unterscheiden, den Bereich der Natur und den Bereich der Kultur. Es scheint vollkommen klar, dass die Natur, wie wir sie heute kennen, unabhängig vom Menschen bestand, bevor der Mensch vor vielleicht zwei oder drei Millionen Jahren evolutionär auf den Plan trat. Aber wie steht es mit der Kultur? Der Ethiker Nicolai Hartmann behauptet, dass ethisch-moralische Werte unabhängig vom Menschen existieren und von diesen entdeckt werden können (also nicht erfunden werden). Es spricht einiges gegen diese These, aber wir wollen das Problem zunächst ausklammern.

Watzlawick interessiert die im Titel angegebene Frage in einem ziemlich engen Sinne, nämlich im Bereich der Psychotherapie und Psychiatrie, genau genommen im Bereich der Geistesstörungen, also der Psychosen. Gesundheit definiert sich in der Psychiatrie und Psychotherapie unter anderem durch den Grad der Anpassung des Individuums an das, was der Normalmensch Realität nennt.

Die Hauptthese Watzlawicks ist, dass uns die Realität kommunikativ übermittelt wird. Diese These leuchtet sofort ein, denn es ist bekannt, wie unterschiedlich Menschen in bestimmten Kulturen oder Subkulturen Wirklichkeit und Realität empfinden. Der Konstruktivismus ist jene analytische Haltung, die auf dieser These beruht: Was wir wissen und fühlen, wird zwischen Menschen einer bestimmten Gruppe oder eines Kulturkreises dialogisch ausgehandelt. Und nicht nur das: Kindern wird diese Sichtweise von den Erwachsenen bewusst und unbewusst vermittelt und ihnen geradezu übergestülpt.

Die Sprache ist maßgeblich an der Ausbildung einer Wirklichkeitsauffassung beteiligt. Sprachwissenschaftler und Übersetzer wissen, wie schwer es ist, Sachverhalte von einer Sprache in die andere zu übertragen, und welche Verzerrungen (mit allen möglichen negativen Folgen) dabei auftreten können. Mit anderen Worten: Wirklichkeit ist eine Konvention, die zwischen Menschen geschaffen wird. Die Frage ist allerdings, ob Wirklichkeit praktisch beliebig konstruiert werden kann oder ob es objektive, mit vernünftigen Gründen nicht bestreitbare Wirklichkeitsbereiche gibt, an die man nicht vorbeikommt?

Wahrheit, so meint jedenfalls Watzlawick, wird mehr oder weniger erfunden und dann nach außen projiziert, wo sie uns als etwas scheinbar Objektives entgegentritt. Es gebe viele Wirklichkeiten, die über das Vehikel der Kommunikation erst entstehen.
Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit der Konfusion, die aus dieser Wirklichkeitsauffassung, also dem konstruktivistischen Ansatz, resultiert. Watzlawick bringt einige Beispiele von Aussagesätzen, die logisch nicht mehr aufzulösen sind. Das berühmteste Beispiel stammt aus der Antike und lautet: Alle Kreter sind Lügner, sagt der Kreter. Aber beherrschen solche Beispiele unsere tägliche Kommunikation?

Das zweite Kapitel scheint interessanter, hier geht es um Desinformation, auch die des Staates bzw. seiner Organe einschließlich der Geheimdienste. Gemeint ist die absichtliche Verwirrung der Kommunikation. Durch glaubhafte, aber falsche Informationen wird das Meinungsbild der Öffentlichkeit beeinflusst. Watzlawick meint, dass mit der gezielten Desinformation die allgemein gültigen Kommunikationsregeln außer Kraft gesetzt werden, aber das stimmt nur zum Teil. Informationen wie Desinformationen arbeiten mit der Erwartungshaltung der Rezipienten auf der Basis von Erwartungen, die der Desinformierer an die Erwartungshaltung der Rezipienten hat. Diese kann er nicht beliebig verletzen, sonst wird der Desinformierer unglaubwürdig. Zudem bedient er sich der üblichen Kommunikationsmittel, von denen allgemein angenommen wird, dass sie akzeptiert sind. Deswegen ist Desinformation ja so schwer von ehrlicher Information zu unterscheiden.

Aber sind die Menschen heute nicht skeptischer geworden? Es gibt viele Beispiele dafür, dass dies nicht der Fall ist. Die aktuelle russische Desinformation zur Krim-Annexion wird von vielen Menschen in Deutschland geglaubt, weil sie glauben wollen. Für viele Menschen steht fest, dass „die Medien“ grundsätzlich falsch informieren („Lügenpresse“), eine übergeneralisierte Skepsis, die auch deswegen schon keine mehr ist, weil sie aus purem Misstrauen besteht. Punktuelles Misstrauen gegenüber bestimmten Informationen bestimmter Quellen ist sicherlich angebracht, wird aber destruktiv, wenn es keine Inseln des Vertrauens mehr gibt, wenn also ein paranoides Weltbild nicht mehr nur von einigen Psychiatrie-Insassen gepflegt wird, sondern größere Bevölkerungskreise erfasst.

Das dritte Kapitel behandelt die „zwei Wirklichkeiten“. Damit wird die eingangs gestellte Frage, die nach Natur und Kultur, beantwortet. Es gibt einerseits die physikalische Wirklichkeit mit Eigenschaften, über die man ein ziemlich hohes Maß an Klarheit gewinnen kann. Diese Wirklichkeit beruht auf Konsens, beispielsweise in der Mathematik, Physik, Chemie usw. Die zweite Wirklichkeit umfasst die Sphäre der Interpretation, der Sinngebung und der Wertwelt. In dieser Sphäre finden die täglichen Kontroversen statt. Hier kann man in der Regel nicht mehr objektiv, sondern nur subjektiv entscheiden. Auch in dieser Sphäre ist meines Erachtens ein gewisser Grad an vernünftiger Übereinstimmung erreichbar. Diese Übereinstimmungen sind aber schwerer herzustellen und können in tiefgreifende Zerwürfnisse und gesellschaftliche Spaltungen übergehen.

Watzlawick meint, dass diese zweite Sphäre in der Psychiatrie ignoriert wird. Dem kann ich nicht folgen. Aus der Kenntnis der ersten Welt heraus ist es einfach äußerst unwahrscheinlich, dass Satelliten, „Chemtrails“ oder vorbeifahrende Autos einen manipulieren können oder auch nur wollen. Natürlich gibt es auch hier Grenzbereiche. Ein einzelner Mensch kann einem Böses wollen, aber wie wahrscheinlich ist es, dass es alle Menschen meiner Umgebung tun?

Wie lässt sich Kommunikation aufbauen? Der Leser mag von Watzlawicks Buch erwarten, dass er diese Frage soziologisch beantwortet – tut er aber nicht; er geht vielmehr auf die inzwischen wegen Erfolglosigkeit eingestellten Versuche ein, Primaten eine Gebärdensprache beizubringen. Es gehört zu den wenig erbaulichen Ergebnissen, dass jene Schimpansin, die es in der Gebärdensprache am weitesten brachte, diese primär zum Beleidigen und Beschimpfen ihrer Artgenossen benutzte (was diese aber nicht mitbekamen, da sie die Gebärdensprache nicht gelernt hatten). Viel ist auch von Delphinen die Rede, von denen man vor einigen Jahrzehnten Wunderdinge erwarteten. Watzlawick stellte an die Erforschung von deren Kommunikationsverhalten die Erwartung, der Mensch könne Regeln erkennen, die es uns ermöglicht, dereinst mit außerterrestrischen Lebewesen Kontakt aufzunehmen – womit Watzlawick damals offenbar fest rechnete. Auch diese Erwartung hat sich nicht erfüllt.

Watzlawick kommt zu dem bedenkenswerten Schluss, dass seelische Gesundheit möglicherweise darin besteht, sich den beiden Extremen zu verschließen, das heißt weder ganz objektiv-materialistisch noch ganz subjektiv-idealistisch die Wirklichkeit zu betrachten, sondern flexibel einen situationsabhängigen Mittelweg einzuschlagen.