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Philosophie

Vorlesungen über Friedrich Nietzsche – Aristokratischer Radikalismus

Autor*in:Georg Brandes
Verlag:Schwabe Verlag, Basel 2021, 570 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:18.03.2022

Georg Brandes (1842-1927) war einer der bedeutendsten Literatur- und Kulturwissenschaftler Europas. Obwohl gebürtiger Däne, lebte er oft wochen- und monatelang im Ausland und hielt Vorträge in vielen größeren Städten Europas, vorwiegend in Italien, Frankreich, England, Österreich, Polen, Russland, der Schweiz und in Deutschland. Dabei machte er die Bekanntschaft mit Schriftstellern, Künstlern, Philosophen und Kritikern, in deren Nähe er sich bald wohler fühlte als in Kopenhagen.

Hinzu kam, dass ihm – z.B. in der Deutschen Rundschau – ein Forum für vielfältige Publikationen eröffnet wurde, für die er überwiegend positives Echo erhielt und aufgrund derer er beinahe als deutscher Schriftsteller zählte. Weit über sein Vaterland hinaus begann Brandes eine europäische Institution zu werden, die für Fragen der Einordnung und letztgültigen Beurteilung von Kultur ebenso wie für Kulturtransfer zuständig war.

Die Vermittlung der skandinavischen Autoren Sören Kierkegaard, Henrik Ibsen und Jens Peter Jacobsen in Europa kann man ebenso wie die Durchsetzung etwa von Gerhart Hauptmann oder Frank Wedekind im nordischen Raum als Prozesse begreifen, die von Brandes angestoßen und maßgeblich mitgestaltet wurden. Die geographische Lage Dänemarks zwischen Skandinavien und dem übrigen Europa hat diese Brückenfunktion ebenso begünstigt wie den kritisch-urteilenden und zusammenschauenden Blick, den ein Individuum leichter einüben kann, wenn es von den Rändern oder einem Zwischenraum her zu denken und fühlen gezwungen ist, als wenn es sich im Zentrum befindet.

Bei seinen Reisen quer durch den alten Kontinent stieß Brandes auch auf die Schriften von Friedrich Nietzsche. Die Bücher und Ideen dieses einsamen Denkers waren in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts nur wenigen vertraut, und umso größer war die freudige Überraschung für Brandes, in den Aphorismen des Wanderers aus der Schweiz und Norditaliens kritische Gedanken vorzufinden, die seinen eigenen Überzeugungen nahekamen.

Kurz entschlossen nahm Brandes brieflichen Kontakt mit Nietzsche auf, schrieb in der Deutschen Rundschau einen einfühlsamen Essay über ihn und begann, den Philosophen mittels Vorträgen in Skandinavien und im übrigen Europa bekannt zu machen. Diese Rezeption sowie das Schlagwort vom „aristokratischen Radikalismus“, das Brandes in Bezug auf den geistigen Gehalt des Denkens Nietzsches prägte und das dieser als äußerst treffend für sich akzeptierte, haben zur Verbreitung von dessen Philosophie um die Jahrhundertwende entscheidend beigetragen.

In der Formel vom aristokratischen Radikalismus zeichnete sich die geistige und persönliche Entwicklung von Brandes selbst ab. In vielen seiner Schriften war er dazu übergegangen, den Kulturprozess auf den Einfluss bedeutender Individuen hin zu untersuchen; in Nietzsche begegnete ihm nun ein Denker, der sehr radikal den Sinn aller Kulturentwicklung in der Hervorbringung großer und bedeutender Menschen zu erkennen meinte. Dieser Gedanke wurde von Brandes aufgenommen und in seine eigene Theorie der Kultur integriert:

In unseren Tagen ist die Anschauung weit verbreitet worden, dass der große Mann ganz und gar durch das Zeitalter bestimmt ist, dessen Kind er ist, es unbewusst resümiert und ihm mit Bewusstsein Ausdruck zu geben bestrebt sein soll. Aber obgleich der große Mann selbstverständlich nicht außerhalb des Gangs der Geschichte steht und immer auf Vorgängern fußt, keimt eine Idee doch stets in einem Einzelnen oder in einigen Einzelnen auf, und diese Einzelne sind nicht zerstreute Punkte in der niedrigstehenden Menge, sondern Hochbegabte, welche die Menge an sich ziehen und nicht von ihr gezogen werden. Das, was man den Zeitgeist nennt, entsteht zuerst in ganz wenigen Köpfen (Brandes, G.: Aristokratischer Radikalismus, 1889/90, Basel 2021, S. 373).

Neben einer klugen Darstellung der Persönlichkeit und des Denkens Nietzsches darf als Resultat der Bekanntschaft von Brandes mit dem Philosophen die Bestärkung seiner Überzeugung gewertet werden, dass die Kultur von einigen Aristokraten des Geistes geschaffen und vorangetrieben wird – eine Überzeugung, die übrigens zu einer längeren Kontroverse mit dem dänischen Philosophen Harald Höffding (1843-1931) führte, der gegen das Schlagwort von Brandes (aristokratischer Radikalismus) seine eigene Formel vom „demokratischen Radikalismus“ setzte.

Dem Schwabe-Verlag in Basel kann man es nicht hoch genug anrechnen, mit der hervorragend edierten und kommentierten Herausgabe der fünf Vorlesungen von Georg Brandes über Friedrich Nietzsche sowohl an den Kulturwissenschaftler Brandes als auch an den Philosophen Nietzsche auf überaus elegante und bibliophile Art und Weise zu erinnern. Es macht die große Bedeutung des Ersteren aus, den Wert und die Bedeutung des Letzteren vollumfänglich erkannt und zum Ausdruck gebracht zu haben; und es macht die Bedeutung eines Verlages aus, sich (neben der Herausgabe von zeitgenössischen Autoren) immer wieder auch der Edierung von derzeit nicht im Fokus des öffentlichen Interesses stehenden Klassikern der Geistes- und Kulturgeschichte zu widmen.