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Philosophie

Vom Mythus des Staates

Autor*in:Ernst Cassirer
Verlag:Felix Meiner Verlag, Hamburg 2002, 416 Seiten
Rezensent*in:Gert Janssen
Datum:12.10.2019

Ernst Cassirer war ein deutscher Philosoph, der von 1874 bis 1945 lebte. Nach dem Studium der Philosophie bei Georg Simmel und dem Neukantianer Hermann Cohen forschte und lehrte er zunächst als Privatdozent in Berlin, ab 1919 als Professor für Philosophie an der Universität in Hamburg und 1929/1930 dort als Rektor. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde ihm als Juden 1933 der Lehrstuhl entzogen. Noch im selben Jahr emigrierte er zunächst nach England und 2 Jahre später nach Schweden, wo er an der Universität Göteborg lehrte. 1941 übersiedelte er in die USA und lehrte dort an der Yale University in New Haven sowie bis zu seinem Tod an der Columbia University in New York. In seinem Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen, erschienen in den Jahren 1923 bis 1929, zeigt er verschiedene Wege des menschlichen Zugangs zur Welt durch Symbole wie Sprache, Mythos, Religion und Wissenschaft auf. In Versuch über den Menschen (1944) baute er seine kulturphilosophische Theorie zu einer philosophischen Anthropologie aus. Sein eigenes Lebensschicksal veranlasste ihn schließlich, sich in Vom Mythus des Staates (1946) mit der Entwicklung der politischen Theorie des Staates und ihrem Versagen im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.

In einer Zeit, in der Populismus und Nationalismus trotz der schlimmen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert wieder ihr Haupt erheben, bin ich auf der Suche nach einem Verständnis dieses Phänomens auf das Buch von Ernst Cassirer Vom Mythus des Staates aufmerksam geworden. Cassirer sucht nach einer wissenschaftlichen Erklärung für das Aufkommen politischer Mythen nach dem Ersten Weltkrieg, die im Nationalsozialismus gipfelten. Wie konnte es ihnen gelingen, einen Sieg über das rationale Denken und das bis dahin erreichte kulturelle Niveau unseres geistigen und sozialen Lebens davonzutragen? In Cassirers eigenem Emigranten-Schicksal spiegelt sich der Triumph der Mythen über Geist und Kultur. Das Buch kann als sein philosophisches Testament bezeichnet werden; denn es ist das letzte Werk, das er vor seinem Tod im April 1945 abschloss.

Zu den verschiedenen Theorien über das Aufkommen und den Erfolg des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert fügt Cassirer aus seiner Kenntnis der menschlichen Wege des Zugangs zur Welt heraus eine neue hinzu. Der Mythos als einer dieser Wege – hier der vom starken Führer und vom Vorrang der weißen Rasse – ist immer da, nur lebt er im Verborgenen, solange Wirtschaft und Staat florieren bzw. ein adäquates Sicherheitsgefühl vermitteln. Sobald dies nicht mehr gewährleistet ist, also bei drohendem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch – wie nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg – und der Unfähigkeit des Staates, dem Niedergang mit normalen staatlichen Mitteln beizukommen, lebt der Mythos wieder auf. Er erstarkt und übernimmt unter Umständen – wie im Dritten Reich – die Führung des politischen Geschehens. Verhängnisvoll wird das Auftauchen des Mythos durch das Zusammentreffen mit neuen technischen Kommunikationsmitteln, hier Radio und Film. Sie werden von den „Führern“, die sich vom homo magus zum homo faber entwickelt haben, in raffinierter Weise benutzt, um den Mythos schnell und wirksam gleich einem „Maschinengewehr“ (S.368) unter den Menschen zu verbreiten und jeden Widerstand dagegen auszuschalten. Was Cassirer aber am meisten erschüttert, ist, dass die Errungenschaften westlichen philosophischen Denkens – sichtbar in der französischen Deklaration der Menschenrechte und in der amerikanischen Verfassung – dem Mythos nicht standzuhalten vermochten, ja gar keine Rolle mehr spielten.

Bevor Cassirer diese These aufstellt, zeichnet er mit beeindruckender Genauigkeit die Entwicklung der politischen Theorien von den Griechen bis zur Neuzeit nach. Wer die Geschichte politischen Denkens von Platon und den Stoikern über Cicero und Seneca, dann im Mittelalter über Augustinus und Thomas von Aquin bis zu seiner praktischen politischen Bedeutung in der französischen Deklaration der Menschenrechte und in der amerikanischen Verfassung kennenlernen will, findet hier eine wahre Fundgrube. Cassirer ist hier als Philosoph in seinem Element. Man merkt ihm an, wie hoch er die Errungenschaften westlichen philosophischen Denkens schätzt und ihren Bedeutungsverlust gegenüber dem Mythos des 20. Jahrhunderts bedauert. Cassirers Analyse überzeugt, weil er hier aus eigener Erfahrung spricht.