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Philosophie

Philosophie

Autor*in:Karl Jaspers
Verlag:Schwabe-Verlag Basel 2022, drei Bände, 364 / 393 / 217 Seiten plus jeweilige Kommentare und editorische Notizen
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:31.12.2022

Karl Jaspers (1883-1969) hat als Arzt, Psychiater und Psychologe ebenso wie als Philosoph bedeutende Grundlagentexte verfasst. Nachdem er 1922 in Heidelberg trotz der skeptischen Einwände von Heinrich Rickert ein eigenes Ordinariat am Philosophischen Institut der dortigen Universität erhalten hatte, machte er sich daran, seine eigene philosophische Position umfassend zu klären und zu beschreiben; das Resultat dieser Selbstvergewisserung waren die drei Bände Philosophie, die zwischen 1927 und 1932 entstanden sowie 1932 erschienen sind und später zu einem 900 Seiten-Opus zusammengefasst wurden.

Der erste Band ist mit Philosophische Weltorientierung überschrieben. Hierin werden die wissenschaftlichen Zugänge zur Wirklichkeit referiert, wobei Jaspers bestritt, dass diese ein vollständiges Weltbild begründen können. Wissenschaften untersuchen Sektoren der Realität und bewegen sich innerhalb der Subjekt-Objekt-Spaltung. Wenn wissenschaftliche Zugänge verabsolutiert werden, darf und muss die Philosophie als Korrekturmittel eingreifen. Sie intendiert die Totalität der Welterfahrung, die Jaspers „das Umgreifende“ nannte.

Der zweite Band trägt den Titel Existenzerhellung. Diese verwertet die mannigfachen Wissenschaften vom Menschen, ist aber grundsätzlich von ihnen wesensverschieden. In der Existenzerhellung ist das Bewusstsein der Seins- und Sinnfrage lebendig. Sie begnügt sich nicht mit Faktenwissen, sondern stellt ein transzendierendes Denken dar, das reales und mögliches Dasein in Betracht zieht und ein Verständnis für das menschliche Leben als einem Spielraum potentieller Existenzformen entwickelt.

Bereits in Psychologie der Weltanschauungen (1919) hatte Jaspers von den Grenzsituationen gesprochen, die für das Studium des Menschen und seiner Existenz aufschlussreich sind. In Philosophie ergänzte er, dass diese im Grunde eine Art Scheitern beinhalten. Der tragisch gestimmte Autor hielt eine Erweckung des Menschen aus seiner Seinsvergessenheit vorrangig nur im Erlebnis von Daseinskrisen für realisierbar. Wenn Krisen überhand nehmen, werde der Mensch unwillkürlich auf das eigentliche Selbstsein hingelenkt:

In der Grenzsituation erst kann es das Leiden als unabwendbar geben. Jetzt ergreife ich mein Leiden als das mir gewordene Teil, klage, leide wahrhaftig, verstecke es nicht vor mir selber, lebe in der Spannung des Jasagenwollens und des nie endgültig Jasagenkönnens … Jeder hat zu tragen und zu erfüllen, was ihn trifft. Niemand kann es ihm abnehmen. Wäre nur Glück des Daseins, so bliebe mögliche Existenz im Schlummer. Es ist wunderlich, dass das reine Glück leer wirkt (Band 2, S. 200).

Im Leid, in Krankheiten, Niederlagen und existentiellen Erschütterungen ist der Mensch alleine, und wenn er diese Situationen der Einsamkeit nutzt, kann er daraus gereifter und mit dem Gespür für seine individuelle Existenzform hervorgehen. In Philosophiebetonte Jaspers, dass es neben solchen Voraussetzungen der Selbstwerdung auch das Erlebnis von Zwischenmenschlichkeit und Kommunikation gibt, die ähnlich wie die Grenzsituationen zur Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit beitragen. Im liebenden und lang anhaltenden Bemühen um wechselseitige Transparenz und Verständigung geschieht nicht selten ein Aufschwung zu authentischen Daseinsformen, die auf andere Weise kaum zu realisieren wären. Diesbezüglich vertrat Jaspers eine dialogische Philosophie, wie sie auch von anderen Autoren (Martin Buber, Franz Rosenzweig) thematisiert worden war.

Selbstsein ist zugleich auch Freiheit. Nach Jaspers greifen die deterministischen Lehren zu kurz, weil sie das menschliche Freisein übersehen. Es ist richtig, die vielfältige Bedingtheit des Handelns und Verhaltens aufzuweisen, aber ein Rest von Wahl und Entscheidung gehört stets zum menschlichen Lebensprogramm. Daran zu appellieren und dies ins Bewusstsein zu bringen, sei eine der vornehmsten Aufgaben der Philosophie. Prekär wird die freie Wahl in den Grenzsituationen. Sie muten wie Mauern an, vor die man gerät, und an denen der Ernst und das Wesen der Conditio humana erfahrbar wird.

Menschen leben oft leichtsinnig und oberflächlich eine uneigentliche Existenz. In die Eigentlichkeit werden sie hineingezwungen, wenn sich eine Grenzsituation konstelliert. Solche krisenhaften Zuspitzungen ergeben sich aus Leiden, Krankheit, Kampf, Tod, Zufall und Schuld. Aufgrund ihres tragischen Charakters versuchen viele, diese Grenzsituationen in ihrem existentiellen Gehalt zu relativieren oder zu verdrängen. Wer sich jedoch durch die lärmige und banale Lebenswelt nicht betäuben lässt, findet sich unweigerlich mit der Brüchigkeit und den Limitierungen des Daseins konfrontiert. Jaspers plädierte dafür, die Fragilität der menschlichen Existenz (Krankheit, Niederlagen, Schwäche, Schmerz, Begrenzungen aller Art, Tod) vollumfänglich anzuerkennen und nicht mit Gleichgültigkeit oder Nihilismus darauf zu reagieren. Das häufig geäußerte Bedürfnis nach einem Halt in den festen Gehäusen des Lebens und Denkens sei verständlich; dennoch forderte der Autor seine Leser auf, solchen Wünschen nicht nachzugeben und stattdessen unter offenem Horizont zu existieren, selbst wenn dies Verängstigung bedeutet.

Der dritte Teil von Philosophie heißt Metaphysik. Darin versuchte Jaspers, mögliche Erfahrungen der Transzendenz präzise zu erfassen. Die Metaphysik hat sich seit jeher dieser Frage angenommen. Für den Autor war es nicht sinnvoll, in den Spuren der überlieferten Religionen zu wandeln, die eine Hinter- und Überwelt jenseits der wirklichen Welt postulieren und diese anthropomorph als Analogon zur Realität ausmalen. Eher schon strebte Jaspers wie sein Vorbild Immanuel Kant eine Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) an und meinte, dass es existentielle Bezüge zur Transzendenz gibt, die sich für den Hellsichtigen in den Grenzsituationen und anderen seltenen Erlebnisweisen als Basis von Welt und menschlicher Existenz offenbaren. Anhand von Chiffren könne man erfahren, was der Sinn von Sein und Seiendem ist.

Chiffren sind mehr als Symbole, wobei alles zur Chiffre werden kann, wenn der Einzelne die Fähigkeit des intuitiven Lesens erworben hat, um die Sprache der Transzendenz zu verstehen. So gelangte Jaspers auf Umwegen zu einer Seinsmystik, die ihm ein relativ religionsnahes Philosophieren ermöglichte. Ganz glücklich konnten religiöse Leser mit dieser Philosophie allerdings nicht werden. Jaspers hat nie an einen persönlichen Gott geglaubt, der sich in geschichtlicher Weise offenbart. Eher schon dachte er an einen Deus absconditus im Sinne von Blaise Pascal, einen verborgenen Gott, der irgendwie mit dem Sein im Ganzen identisch ist. Zu seiner Distanz den landläufigen Religionen gegenüber passte, dass der Philosoph vor seinem Tod festgelegt hatte, nach seinem Ableben ohne Mitwirkung eines Geistlichen beerdigt werden zu wollen.

Wer sich in das knapp 800 Seiten umfassende dreibändige Jasperssche Hauptwerk von Philosophie oder auch in die sich über 130 Seiten erstreckende blitzgescheite Einleitung des Herausgebers Oliver Immel (geboren 1972) vertieft, wird mit einer beeindruckenden Fülle von das eigene Dasein und den eigenen Existenzvollzug erhellenden Gedanken belohnt. Und selbst wer nicht mit allen Ausführungen des Philosophen d’accord gehen kann und mag (z.B. im Band 3: Das spekulative Lesen der Chiffreschrift), wird doch von der wuchtigen Seriosität und dem außerordentlich hohen humanistischen Ethos seines Denkens begeistert sein.