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Philosophie

Neue Phänomenologie im Widerstreit - Kritische Perspektiven auf Ertrag und Potential

Autor*in:Steffen Kluck & Jonas Puchta (Hrsg.)
Verlag:Verlag Karl Alber, Berlin 2023, 593 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:21.04.2024

Philosophie lebt - obschon anders, aber in mancher Hinsicht vergleichbar mit Wissenschaften und Künsten - von der zustimmenden, ablehnenden, modifizierenden Bezugnahme der Jüngeren auf die Älteren oder auch der einen Zeitgenossen auf die anderen Zeitgenossen. Beobachten lässt sich derlei bei einzelnen Philosophen (Aristoteles in Bezugnahme auf Platon; Schopenhauer in Bezugnahme auf Kant; Nietzsche in Bezugnahme auf Schopenhauer etc.) wie auch bei philosophischen Schulen und Schulrichtungen (Hegel und die Rechts- wie auch Links-Hegelianer; Husserl und die phänomenologische Bewegung). 

Im Bereich der Phänomenologie und damit in Bezugnahme zu Edmund Husserl und seinen phänomenologisch denkenden und forschenden Nachfolgern angesiedelt war und ist das Oeuvre des Kieler Philosophen Hermann Schmitz (1928-2021), das seit einigen Jahrzehnten unter dem Schlagwort Neue Phänomenologie von sich reden macht. Nach dem Tod von Hermann Schmitz haben es sich die Herausgeber des angezeigten Buches Steffen Kluck und Jonas Puchta, beide Mitarbeiter am Lehrstuhl für phänomenologische Philosophie an der Universität Rostock, zu ihrer Aufgabe gemacht, in einem Sammelband ein erstes kritisches Fazit der Denkarbeit von Hermann Schmitz und ihrer Wirkungen zu ziehen. Der Titel des Bandes Neue Phänomenologie im Widerstreit erinnert im Übrigen an den Titel eines Buches, das vor Jahrzehnten von Christoph Jamme und Otto Pöggeler herausgegeben wurde: Phänomenologie im Widerstreit (1989). 

Hermann Schmitz gilt als Begründer der Neuen Phänomenologie, eine Richtung der Philosophie, die auf z.B. Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty und viele weitere Philosophen Bezug nimmt und deren Denken weiterentwickelt. Besonders der eigene Leib mit seinen wahrnehmbaren und empfindbaren Phänomenen bedeutete für Schmitz ein zentrales Thema, um das sein Denken häufig kreiste. Daneben forderte Schmitz seine Studenten wiederholt auf, banale Gegenstände und Ereignisse nicht lediglich als Selbstverständlichkeiten gering zu schätzen, sondern mit philosophischer Optik und Aufmerksamkeit sowie der Terminologie seiner Neuen Phänomenologie zu erfassen. 

Man mag von Hermann Schmitz und der Neuen Phänomenologie halten, was man will – zwei Merkmale eines Philosophen verkörperte er, die generell uns allen gut zu Gesicht stünden: Zum einen entsprang seine philosophische Reflexion oftmals scheinbar oder tatsächlich alltäglichen Situationen und Begebenheiten; und er verfügte über ein Sensorium, im Trivialen, Alltäglichen, Gemeinen das eventuell Erhabene, Besondere und Extraordinäre zu erspüren. Diese Qualitäten tragen mit dazu bei, dass sich philosophische Spekulationen das Eichmaß von Leben und Alltäglichkeit gefallen lassen. Die Probleme der menschlichen Existenz nutzen solche Denker als Inspirationsquelle, und wenn sie dann noch über eine schlichte Sprache verfügen (was bei Schmitz nicht immer gegeben war), spiegeln sie die Ergebnisse ihrer Überlegungen ins Dasein nicht nur von wenigen Spezialisten, sondern von uns allen zurück.

Des Weiteren konnte man bei Schmitz erleben, wie Philosophen versuchen, das bisher Ungedachte und Unausgesprochene in Worte zu fassen. Philosophie ist unter anderem sprachlich-intellektuelle Landnahme vom Meer des beinahe Unaussprechlichen, vom vage und intuitiv Gespürten und von den Bereichen unserer Existenz, die wir – um Begriffe der Psychoanalyse zu verwenden – als Verdrängtes, Vergessenes, Unbewusstes bezeichnen. Ob die dabei verwendeten oder erfundenen Begriffe jeweils glücklich oder gar verständlich gewählt waren, sei dahingestellt. Dass aber der Impuls, die Grenzen der Sprache und damit die Grenzen unserer Welt rezidivierend nicht nur zu touchieren, sondern zu überschreiten und auszuweiten, manchen Philosophen als auszeichnendes Merkmal zukommt und attestiert werden darf, steht außer Zweifel. In dieser Hinsicht ähnelt ihre Tätigkeit der Dicht-Kunst sowie der psychoanalytischen Therapie, die unter dem Motto steht: Wo Es war (also das Exkommunizierte und Unbewusste), soll Ich werden (das Bewusste und in Symbolen Exprimierbare).

In zwei autobiografischen Texten Hermann Schmitz' und weiteren zwanzig Abhandlungen von verschiedenen Beiträgern werden einzelne Topoi und Fragestellungen der Neuen Phänomenologie auf ihre methodischen und inhaltlichen Aspekte hin beleuchtet. Dabei wird deutlich, wie sehr manche Denkfiguren der Neuen Phänomenologie in außerphilosophischen Disziplinen fruchtbare Spuren hinterlassen haben - so etwa in der Medizin, Psychiatrie und Psychosomatik, Pädagogik, Psychologie, Soziologie oder auch in der Naturästhetik. Für Hermann Schmitz bedeutete es stets einen hohen Wert, dass seine philosophischen Überlegungen nicht nur von Fach-Philosophen, sondern weit darüber hinaus auch von Vertretern der Wissenschaften vom Menschen und der Künste rezipiert und in deren eigenes wissenschaftlich-künstlerisches Denken und Tun integriert werden.

Die Neue Phänomenologie im Widerstreit gibt einen einen seriösen Überblick sowohl über einige zentrale philosophische Konzepte Hermann Schmitz' und seiner Schüler (z.B. der Leib; das Gefühl) als auch über die interprofessionellen und interdisziplinären Wirkungen, die von ihr in den letzten Jahrzehnten ausgegangen sind. Zugleich darf sie sich wie manch andere Neu-Gründung (etwa die Neo-Psychoanalyse oder die Neo-Individualpsychologie) fragen, was denn das tatsächlich Neue und ihr innovatives Potential ausmacht, das in der bisherigen (alten?) Phänomenologie nicht auch schon mitangelegt gewesen wäre.