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Philosophie

Mein Leben mit Ernst Cassirer

Autor*in:Toni Cassirer
Verlag:Meiner Verlag Hamburg 2003, 368 Seiten
Rezensent*in:Ulii Kümmel
Datum:06.03.2024

Toni Cassirer schildert das Zusammenleben mit ihrem Mann Ernst Cassirer über einen Zeitraum von 1901 bis 1945. Der Text ist gut lesbar, flüssig und anregend geschrieben. Die Autorin versteht es meisterhaft, komplexe Themen auf eine klare und zugängliche Weise darzustellen. Ihre Sprache ist mühelos und zieht den Leser in den Bann. Die Gliederung ist chronologisch aufgebaut und entspricht den Lebensstationen des Paares, die sich zunächst an den beruflichen Notwendigkeiten von Ernst Cassirer orientieren und später den Herausforderungen der Emigration folgen.

Eine Reihe von Kapiteln beschäftigt sich mit Freundschaftsbeziehungen zu bedeutenden Persönlichkeiten des Zeitgeschehens wie Hermann Cohen, Albert Schweitzer und Albert Einstein aus der Sicht der Autorin. Sie erzählt in ihrem Buch nicht nur die Entwicklung ihres privaten gemeinsamen Erlebens, sondern reflektiert auch tiefgründig das Zeitgeschehen bis zum Tod ihres Mannes am 13. April 1945. Außerdem berichtet sie wie nebenbei über die vielschichtigen Lebensformen des Judentums in der Vorzeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Jüdische Mitbürger fühlten sich als Deutsche und waren oftmals tief verwurzelt in der deutschen Kultur, sei es in Kunst, Literatur, Philosophie oder Wissenschaft.

Besonders wichtig im Hinblick auf unsere Gegenwart erscheint mir Toni Cassirers exakte Beobachtung der allmählichen Entwicklung des Antisemitismus. Sie beschreibt präzise, wie antisemitische Vorurteile erst subtil zum Ausdruck kamen, dann immer offener geäußert wurden, um schließlich in die schamlos-brutale Gewalttätigkeit des Nationalsozialismus überzugehen. Diese feinen Wahrnehmungen Toni Cassirers über zunächst scheinbar unbedeutende antisemitische Äußerungen ziehen sich von den Anfängen des Buches an über den gesamten Text und ergeben insgesamt ein erschreckendes Bild auch im Hinblick auf die Entwicklungen der heutigen Zeit in Europa. Allein schon deshalb lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.

Toni Cassirer verwebt geschickt ihre persönlichen Erlebnisse mit der wissenschaftlichen Entwicklung ihres Mannes, einem der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Ihre Absicht war es, ihren Mann nicht nur als faszinierende, schon zu Lebzeiten berühmte Persönlichkeit darzustellen, sondern ihn auch im Privatleben in seiner Eigenschaft als Partner und liebevoller Vater sichtbar werden zu lassen. Wie sie schreibt, war es das Ziel ihres Buches, Ernst Cassirers Bild für spätere Zeiten zu bewahren.

Cassirer selbst hat zu seinen Lebzeiten wenig über sich und seine Wurzeln gesprochen; ihm war es nicht wichtig, persönlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen, da für ihn das Werk und seine philosophische Arbeit stets im Mittelpunkt standen. Sein Interesse galt der Sache, nicht der eigenen Person.

Toni Cassirer spricht berührend über ihre Liebe zu diesem ungewöhnlichen Menschen und den gemeinsamen Weg, der sie durch die vielen Krisen des 20. Jahrhunderts führte. Wohl keiner, der die vielen im Buch zitierten Briefe Cassirers liest, wird davon unbeeindruckt bleiben. Sie sind das Manifest einer Zuneigung, die durch keine Schicksalsschläge in Gefahr geriet, von der ersten Begegnung im Jahr 1901 an bis zu Ernst Cassirers Tod 1945.

Ernst Cassirer und Toni Bondy lernten sich 1901 anlässlich der Hochzeit einer Cousine in Berlin kennen. Toni war behütet aufgewachsen und hatte bereits mit fünfzehn Jahren die Schule verlassen, aber danach aus eigener Initiative Privatunterricht genommen. Wie dem Text zu entnehmen ist, empfand sie ihre eigene Bildung als lückenhaft. Sie war jedoch begabt sowie ausgesprochen kreativ und bildungshungrig und kannte sich in der Literatur-, Konzert- und Theaterszene gut aus. Bei der ersten Begegnung mit ihrem Cousin Ernst Cassirer war sie gerade einmal 17 Jahre alt, Ernst zählte 27 Jahre. Als Toni ihrer Mutter von der gegenseitigen Zuneigung schüchtern erzählte, rief die Mutter aus: „Kind, du hast das große Los gezogen!“

Ernst Cassirer galt in der weitverzweigten Familie als aufstrebender Philosoph mit großer Zukunft. Er hatte bereits promoviert und zusätzlich den Leibniz-Preis der Berliner Akademie gewonnen. Die beiden jungen Leute verstanden sich vom ersten Augenblick an, führten stundenlange Gespräche und hatten die gleichen Vorlieben und Interessen. Von seiner Seite war von Anfang an klar, dass er diese junge lebhafte Frau heiraten wollte. Auch Toni Cassirer schilderte die gegenseitige Liebe in höchsten Tönen, betonte aber mehrfach die geistigen Unterschiede, vor allem, wenn es um seinen Beruf als Philosoph ging. Ernst Cassirer dagegen war überzeugt, in ihr die Frau seines Lebens gefunden zu haben, und er hat dies später auch immer wieder zum Ausdruck gebracht.

Die Beschreibung der Erinnerungen der Autorin wirkt auch durch das Offenlegen persönlicher Briefe Ernst Cassirers authentisch und einfühlsam. Über ihre Beziehung schreibt sie, dass trotz der fast gegensätzlichen Temperamente ein merkwürdiger Zusammenhalt zwischen ihnen bestanden habe: Er, der Weise, Gelassene, Heitere, Verzeihende, sie das halbe Kind, voller Kampfeslust und Kritik und mit einem Hang zur Schwermut. Sie empfand es als wohltuend, dass er vom ersten Tag ihrer Begegnung an Anteil an ihren gesundheitlichen Problemen (Herzschwäche und Migräne) nahm. Als besonders erwähnt sie die große Güte, die aus jedem seiner Worte sprach, vereint mit seiner schönen Erscheinung. Über alles mochte sie seine wunderschöne Stimme. Mit Empathie schildert sie seine ungewöhnlichen Begabungen, und sie war überwältigt von der Weite und Tiefe seiner Kenntnisse auf vielen Gebieten, die auch ihr nach und nach zugänglich waren. 

Über das persönliche Erleben hinaus gibt der Text viele Informationen über das Schicksal und Leiden von Emigranten und erinnert uns daran, welche Bedeutung der Verlust all dessen, was den Wert der eigenen Existenz vor der Vertreibung ausmacht, bedeutet. Selten wird so verstehbar dargestellt, was es heißt, alles, was bisher das eigene Leben umschrieb, das Lebenswerk, die Beziehungen zu geliebten Menschen, die eigene Sprache und Kultur zu verlieren. Dabei geht es immer auch darum, wieder Hoffnung zu finden, sich den Herausforderungen zu stellen und sich eine neue Zukunft aufzubauen. Diese realistische Darstellung der Folgen einer erzwungenen Emigration für die Betroffenen zeigt einmal mehr die besondere Aktualität dieses Buches. Es ist eine Anregung, sich noch eingehender mit dem Philosophen Ernst Cassirer, seiner geistigen Haltung und seinem fundamentalen Werk zu beschäftigen.