49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Philosophie

Liebe und Erkenntnis

Autor*in:Max Scheler
Verlag:Francke Verlag, Bern und München 1970, 136 Seiten
Rezensent*in:Klaus Hölzer
Datum:08.02.2012

Goethe, Leonardo und Giordano Bruno stimmen darin überein, dass Liebe und Erkenntnis in einer tiefen und innigen Beziehung stehen und sich gegenseitig fördern. Alle drei scheinen dem bourgeoisen Urteil, dass Liebe blind mache, zu widersprechen. Auch Blaise Pascal widersetzt sich dieser Auffassung, und zwar mit dem auf den ersten Blick unglaublich wirkenden Satz: „Liebe und Vernunft sind ein und dasselbe.“ Erst im Verlauf der Liebe, so Pascal, tauchen die Dinge auf, die unsere Sinne wahrnehmen und die unsere Vernunft beurteilen oder bewerten kann. Auch Spinoza hat in seiner Lehre von der höchsten Erkenntnisstufe die umfassendste und adäquateste Erkenntnis des Seins mit einem liebevollen Hängen am Gegenstand zu einem innigen Erlebnis der Einheit  als verschmolzen angesehen.

Die indische Liebesidee ist ebenso intellektualistisch wie die griechische des Platon und des Aristoteles. Eros ist für Platon Trieb und Sehnsucht des „Nichtseienden“, also des Schlechten, zum „Seiendem“, also dem Guten. Anders als im Christentum ist bei den Indern und Altgriechen alle Erlösung Selbsterlösung des Individuums durch den Erkenntnisakt. Deshalb gibt es bei den Indern keinen Gott als Erlöser, sondern nur den Lehrer der Weisheit, dessen Lehre den Weg des „Heiles“ weist. Dagegen muss im christlichen Verständnis der Häretiker irren, weil er der göttlichen und kirchlichen Liebe nicht teilhaftig ist.

Auch bei Platon ist Liebe auf Erkenntnis bezogen. Sie ist ein Streben von unvollkommener zu vollkommener Erkenntnis, was aus der Bestimmung hervorgeht, dass weder die Unwissenden noch die vollkommen Wissenden lieben können, sondern nur die Liebhaber der Weisheit. Liebe, Eros, ist der Sohn des Reichtums und der Armut, des Wissens und des Nichtwissens. Deshalb ist bei den Griechen die Gottheit nur Gegenstand der Liebe, nicht selbstliebend wie in der christlichen Sphäre. Überall, wo Liebe der Erkenntnis folgt und wo Liebe nur der Weg zu wachsender Erkenntnis ist, findet man das Bild einer in sich selbst glänzenden Gottheit, die nicht wiederliebt, sondern sich von den Menschen lediglich anbeten lässt.

Das höchste Ziel, zu dem alle geistige Befähigung und zu dem auch die Liebe in ihrer reinsten Form führen kann, ist die „Ideenschau“ des Philosophen. Sie ist vom „Schaffen und Zeugen“ am weitesten entfernt. Sie bedeutet Vermählung mit dem Wesen. Diese Erhaltungsfunktion hat nach Platon die Liebe in der inneren Werkstatt unseres Geistes. Was sie im pflanzlichen und tierischen Leben als Zeugung und Vererbung leistet, das leistet sie in der Seele des menschlichen Individuums  in der Erinnerung und Reproduktion der Vorstellungen.

Das griechisch-indische Prinzip, wonach Erkenntnis Liebe begründet, hat von Hause aus eine isolierende und vereinsamende Kraft. Sie wäre eine Gottesliebe, die die Nächstenliebe vernachlässigt und die nicht fruchtbar und tätig würde. Sie wäre im christlichen Bewusstsein nicht Liebe zu Gott, dem auf die Kreaturen liebreich Bezogenen, sondern Liebe zu einem Götzen. Ein Ketzer als Ketzer, nicht wegen des Inhaltes seiner Thesen, muss also irren; Ketzer ist, wer nicht die Brücke der Nächstenliebe und die in ihr gegründete Heilsgemeinschaft der Kirche sucht, sondern auf einsamen Wegen zu seinen Behauptungen kommt.

Mit dem Verblassen der Ideen Augustins brachen die Versuche, aus dem christlichen Grunderlebnis eine neue Auffassung des Verhältnisses von Erkenntnis und Liebe zu gewinnen, vollständig zusammen. Erst die Renaissance hat mit Giordano Brunos heroischer Weltliebe und mit Spinozas Amor intellectualis Dei einen neuen Typus dieser Auffassung entwickelt. Sie ähnelt der Weltanschauung, die Wilhelm Dilthey als „dynamischen Pantheismus“ charakterisiert hat. In seiner Arbeit Vom Wesen der Philosophie als Teil des Buches Vom Ewigen im Menschen liefert Scheler eine sachliche Untersuchung dieser großen Frage.