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Philosophie

Kairos. Vom Leben im richtigen Augenblick. Für ein neues Zeitempfinden.

Autor*in:Joke Hermsen
Verlag:Harper Collins 2023, 368 Seiten
Rezensent*in:Annette Schönherr
Datum:06.03.2024

Die niederländische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Joke J. Hermsen (*1961) schreibt oftmals preisgekrönte Artikel und Essays über zeitgenössische Philosophie, Kunst und Literatur. Ihr unlängst über den Kairos erschienenes Buch ist „wunderbar reichhaltig, voller philosophischer, literarischer und alltagsnaher Überlegungen“(Catherine Newmark). Die Autorin nimmt uns mit auf eine Reise durch die Philosophiegeschichte, und sie hält ein beeindruckendes Plädoyer für die Zeiterfahrung des Kairos.

In der Antike wurden die beiden untrennbar miteinander verbundenen Seiten der Zeit personifiziert und dargestellt als die Götter Chronos und Kairos. Beiden gemeinsam ist eine gedachte Zeitachse, die in einer horizontalen (Chronos) und einer vertikalen Achse (Kairos) verläuft. Chronos steht für die Uhrzeit als universelle, statische und quantitative Zeit: Sie bringt Ordnung und Struktur in die Welt, auferlegt uns aber auch das Muster einer ewigen Wiederholung des Gleichen. Auf der Uhr ist zwar jede Stunde gleich, aber je nach eigener Stimmung, nach Lebensalter oder Tätigkeit kann uns eine Chronos-Stunde als scheinbar langsam kriechend, rasend oder beschleunigt erscheinen.

Kairos dagegen steht für ein gutes Timing und Ergreifen und Nutzen der guten Gelegenheit: Durch Fokussierung der Aufmerksamkeit gelingt der Kunst des Kairos eine zeitweise Unterbrechung der chronologischen Kontinuität durch ein Eintauchen in eine freie „uhrzeitlose“ Erfahrung (Ernst Bloch). Kairos transzendiert die Chronologie, und es gelingt ihm, gerade während eines Intervalls, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Fülle eines „ekstatischen Augenblicks“ zu verbinden (Heidegger).

Der griechische Gott Kairos ist noch heute beispielsweise auf einem Fresko im Palazzo Sacchetti in Rom zu betrachten und wurde von dem Renaissance-Maler Francesco Salviati in den Jahren 1552-1554 geschaffen: Diese sonderbare Figur ist jung, von muskulös-kräftiger Statur mit geflügelten Schultern und Füßen. Tief gebeugt schaut sie äußerst konzentriert auf eine Waage und verweist somit auf das sorgfältige Abwägen des günstigen Augenblicks, der guten Gelegenheit und der richtigen Argumente. Der Schädel des Kairos ist kahl bis auf eine ihm ins Gesicht fallende Haarlocke. Der Mythos besagt: Wem er blitzartig erscheint, der soll den Kairos augenblicklich beim Schopfe packen. Dagegen lassen Zaudern und Zögern die Hände an seinem glatten Schädel abgleiten, und die Chance auf Erkenntnis, Ruhm oder Lebensveränderung ist vertan. Jenen aber, die sich auf sein Kommen vorbereiten und den Mut haben, ihm ins Gesicht zu schauen, verleiht er Flügel und beschenkt ihn mit Momenten der Schönheit und fruchtbaren Einsichten.

Joke Hermsen erläutert in diesem Buch verschiedene, eng mit dem Kairos-Moment zusammenhängende Aspekte, wie Inspiration, Leidenschaft, Enthusiasmus und Vernunft sowie die schöpferische Fähigkeit des Menschen, etwas Neues beginnen oder in Gang setzen zu können. Dieses Gelingen eines Neubeginns, das Arendt „Natalität“ nennt, weicht vom Vorhergehenden ab und ist daher als ganz unerwartet und kreativ zu bezeichnen. Auch erläutert Hermsen die Voraussetzungen einer gelingenden Kairos-Erfahrung, wie Konzentration, Aufmerksamkeit und Besinnung auf die Vergangenheit. Sie zeigt auf, welche Rolle der Kairos in Kunst, Politik und Bildung spielen kann. Und auf ihrer Suche nach einer zeitgenössischen literarischen Interpretation dieses Phänomens beschreibt Hermsen diesbezüglich einige Werke so unterschiedlicher Schriftsteller wie Thomas Mann oder Virginia Woolf und zeigt, inwiefern der Kairos eine entscheidende Rolle auch in deren Denken und Schreiben gespielt hat.

Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts galt die Zeiterfahrung des Kairos als diejenige, auf die es ankam: auf den rechten Augenblick für neue Erkenntnisse und strategische Entscheidungen. Und sie verband sich zudem mit einer moralischen Lebenskunst, die in allem das rechte Maß sucht. Mit dem Beginn der Neuzeit entartete die chronologische zu einer vorwiegend ökonomischen Zeit und einer damit einhergehenden Entfremdung von der subjektiveren, kreativeren und insbesondere tiefgründigeren kairotischen Zeiterfahrung. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchte der Kairos in den Texten von Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Martin Heidegger, Ernst Bloch und anderen wieder auf und belebte das ihm zugeschriebene revolutionäre Potenzial in den Schriften moderner Denker wie Hans-Georg Gadamer, Walter Benjamin und Ernst Cassirer.

Für Joke Hermsen ist es an der Zeit, den Blick auf den Kairos neuerlich zu erweitern und zu vertiefen, um eine Balance und ein Gleichgewicht beider Zeitformen anzustreben. Sie hofft, dem Leser Einblicke zu geben in das wachsende Verlangen von vielen, dem Regime des Chronos zu entfliehen. Er hat uns insbesondere seit dem letzten Jahrhundert zu ziemlich obsessiven Beobachtern der Uhrzeit mit einem fast permanenten Zeitmangel angetrieben. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts befinden wir uns in vielerlei Hinsicht an einem Wendepunkt: Es gilt, den heute fast schon unumkehrbaren Prozessen der Klima-Veränderung, der Umwelt-Zerstörung und der bedrohten Ökologie Einhalt zu gebieten. Darüber hinaus leben wir in Zeiten wirtschaftlicher, finanzieller und gesellschaftlicher Krisen, die dringend der Reflexion und Vernunft bedürfen, um ihnen konstruktiv zu begegnen und sie zu neuen bedeutungsvollen „Momenten“ umwandeln zu können.

Es gibt zu wenige Zeiten der Ruhe, der Aufmerksamkeit und Wachheit. Aber genau das ist es, was wir nach Kairos brauchen, um das eigene Denken zu schärfen und um kulturelle Pluralität  sowie ein Verständnis von menschlicher Kreativität und Solidarität zu entwickeln. Wie Henri Bergson, so plädiert auch Joke Hermsen für eine konstruktive Zeiterfahrung, die in vielerlei Hinsicht mit der kairotischen Zeit vergleichbar ist. Und wir tun gut daran, uns mit Bergson selbst zu befragen, inwieweit diese unsere Zeit noch Augenblicke für uns bereit hält, in denen wir uns selbst wiederfinden.