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Philosophie

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus

Autor*in:Hannah Arendt
Verlag:Piper, München 2023, 1166 Seiten
Rezensent*in:Annette Schönherr
Datum:27.11.2023

Das 1955 veröffentlichte erste Hauptwerk Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft wurde im Rahmen der durch Thomas Meyer (Hg.) seit 2020 erscheinenden Studienausgabe im November 2023 neu aufgelegt. Leserinnen und Leser werden dazu eingeladen, eine der bedeutenden Denkerinnen des 20. Jahrhunderts kennenzulernen oder erneut zu lesen. In einem für diese Edition verfassten Nachwort untersucht der Historiker und Politikwissenschaftler Jens Hacke (*1973) das Werk Hannah Arendts, um Interessierten bei der Erschließung von Arendts Gedankenwelt behilflich zu sein und aufgrund einiger markanter Positionierungen auch Spezialisten Anregungen zu bieten. Jens Hacke wurde an der HU Berlin mit einer prämierten Dissertation zur Philosophie der Bürgerlichkeit (2005) promoviert und habilitierte sich dort mit der Arbeit Existenzkrise der Demokratie - Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit (2018). Aktuell lehrt er politische Theorie und Ideengeschichte an der MLU Halle-Wittenberg. Mit seinem Nachwort Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Denken am Abgrund ist Jens Hacke eine bedeutende Interpretation des Werks gelungen. 

Die Entstehungsgeschichte dieser erstmals in den USA publizierten Studie Origins of Totalitarianism (1951) ist kompliziert und reicht zurück bis in Hannah Arendts Pariser Jahre als Exilantin (1933-1941). Diesbezüglich Interessierte seien auf die im Herbst 2023  erschienene Biografie von Thomas Meyer Hannah Arendt - Die Biografie verwiesen. Hannah Arendts Origins of Totalitarianism (1951) wie auch die von ihr erweiterte, überarbeitete und eigenhändig ins Deutsche übersetzte Fassung Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) sind entstanden während der Zeit ihrer Mitarbeit als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction (JCR) zwischen 1944-1952/1953 bis zur Auflösung der JCR aus finanziellen Gründen. Diese zwanzig Jahre währende Mitarbeit im Dienste jüdischer Organisationen waren für Arendt keine einfachen Arbeitsverhältnisse, da es in ihren Positionen immer um Themen von Leben und Überleben ging. Des Weiteren flossen in die Ausarbeitung dieses Textes auch die Suche Hannah Arendts nach ihrer Rolle als Publizistin, Intellektuelle und politische Theoretikerin mit ein.

Dieser Studienausgabe der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vorangestellt ist das eindrückliche Motto der jüdisch-amerikanischen Politologin Judith Shklar (1928-1992); sie hat Hannah Arendts Anliegen 1975 präzise und mit eindringlichen Worten beschrieben: „Was Hannah Arendt dazu bewegte, der politischen Wirklichkeit so genau ins Gesicht zu sehen, waren die Kraft der Vernunft und die Verachtung der Illusion. Anderen schlüssig und verständlich zu machen, was sie sah, war ein großer geistiger Triumph – für sie persönlich, aber auch für die Tradition des offenen politischen Diskurses.“

Entstanden ist das Werk Arendts in einem langwierigen, immer offen bleibenden Arbeitsprozess und mit dem Ziel, die Katastrophe des Holocaust (der Shoa) einzuordnen. Die Philosophin betonte dabei, ihr Buch bedeute nicht, „das Noch-nie-Dagewesene aus dem Dagewesenen abzuleiten oder Erscheinungen durch Analogien und Verallgemeinerungen so zu erklären, dass der Aufprall der Wirklichkeit und der Schock der Erfahrung nicht mehr fühlbar seien." Verstehen bedeute vielmehr, „die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, untersuchen und bewusst tragen – und zwar in einer Weise, die weder deren Existenz leugnet, noch sich unter dem Gewicht duckt.“ 

Das tut die Autorin, die sozusagen „am offenen Herzen der Geschichte operiert“ (Thomas Meyer),  indem sie den Ursprüngen und Elementen der totalen Herrschaft als Staatsform im Nationalsozialismus wie auch im bolschewistischen Regime nachgeht. Für Arendt liegen die Ursprünge unter anderem im Niedergang und Zerfall des Nationalstaats und dem anarchistischen Aufstieg der modernen Massengesellschaft. Die in diesem Zerfallsprozess frei werdenden Elemente verfolgt Arendt in den ersten beiden Teilen des Werks in ihre historischen Ursprünge zurück und analysiert sie in dem dritten Teil im Hinblick auf ihre totalitären Kristallisationsformen. 

Der Leser dieses Buches bekommt den Eindruck, dass - wie Jens Hacke es beschreibt – Arendt in ihrem Text ein umfassendes Bild aller sie durchziehenden Denkbewegungen geben wollte, und dass dem Leser angesichts der Überfülle an Ideen, Exkursionen und Thesen einiges abgefordert werde. Andererseits liege aber in dem Bestreben Arendts, alles sagen zu wollen, auch „ein Übermaß an Anregungen, staunenswerten Kehrtwendungen und überraschenden Einsichten für den offenen Leser“ bereit. Und erstaunlich ist weiterhin, dass die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bereits jene wesentlichen Grundgedanken enthält, die Hannah Arendt erst in späterer Zeit ausgearbeitet hat.