49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Philosophie

Die großen Philosophen

Autor*in:Karl Jaspers
Verlag:Schwabe-Verlag Basel 2022, zwei Bände, 1036 Seiten plus jeweilige Kommentare und editorische Notizen
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:03.01.2023

Wie schreibt man eine Philosophiegeschichte? Oder aber: Wie schreibt man die Geschichte der Philosophie? Von welchem archimedischen Punkt aus lässt sich Philosophiegeschichte überhaupt betreiben, wo doch jeder Philosoph und jeder Historiker immer schon Teil der Geschichte ist? Und: Welche Kapitel der gigantisch umfangreichen Enzyklopädie des Jahrtausende und Kontinente umfassenden philosophischen Denkens sollen dabei betont und welche sollen zu Fußnoten degradiert werden?

Im Vorwort zu Die großen Philosophen (1957) stellte sich Karl Jaspers (1883-1969) diese Fragen und beantwortete sie mit dem Verweis auf das gigantische Programm einer Gesamtdarstellung einer Weltgeschichte der Philosophie, die von einem einzelnen Denker kaum einlösbar scheint. Er erwähnte fünf Aspekte respektive Perspektiven, die er dabei auf die Geschichte des philosophischen Denkens werfen könnte und müsste: eine historische Perspektive im engeren Sinne (historische Antwortmuster auf stets und ewig gleichbleibende Fragen der Philosophie); eine sachliche Perspektive (Systematik der verschiedenen Topoi, die in der Philosophie eine Rolle gespielt haben und spielen); genetische Aspekte (Entwicklung der Philosophie aus dem Mythos, der Religion, der Dichtung und der Kunst heraus); praktische Gesichtspunkte (Wirkung der philosophischen Konzepte und Gedanken auf die gelebte Lebenspraxis); dynamische Gesichtspunkte (Kampf der diversen philosophischen Systeme und Ideen um Deutungshoheit).

Obwohl Jaspers diese von ihm selbst formulierten Perspektiven ernstnimmt und in seinem Text beibehält, drängt sich doch noch ein anderer, sehr persönlicher, individueller und personaler Zugangsweg zur Weltgeschichte des philosophischen Denkens bei ihm in den Vordergrund. Nicht zufällig betitelte der Autor sein Werk mit Die großen Philosophen und verdeutlichte damit, dass ihm eine philosophiegeschichtliche Darstellung am ehesten und prägnantesten über die sie prägenden Figuren (Die maßgebenden Menschen; Die fortzeugenden Gründer des Philosophierens; Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker) aussichtsreich erschien.

Mit diesem Zugang zur Philosophiegeschichte gelang Jaspers eine über tausend Seiten umfassende Abhandlung, die wie eine Bestätigung seiner damals (in den späten 40er Jahren) formulierten These von der Achsenzeit wirkte und wirkt. Mit Achsenzeit bezeichnete der Autor die Jahrhunderte zwischen etwa 800 und 200 vor Christi Geburt – jene Epoche der Menschheitsgeschichte, in der parallel in mehreren Regionen der Erde die Weltvernunft erwachte. In China wirkten seinerzeit Konfuzius und Laotse, in Indien Buddha, in Persien Zarathustra, in Palästina die alttestamentarischen Propheten und in Griechenland die Schar der Philosophen, die auf originelle Weise begannen, die Probleme von Kosmos, Leben und Kultur zu durchdenken. In vielen von ihnen anerkennen wir noch heute die Apologeten vernunftgemäßen Reflektierens, und auch Jaspers sah in ihnen so manche Kriterien der „Größe“ als gegeben an; unter anderem attestierte er ihnen:

Sie stehen in der Zeit über der Zeit. Jeder, auch der Größte, hat zwar seinen historischen Ort und trägt seine historischen Kleider. Das Kennzeichen der Größe aber ist, dass er nicht an sie gebunden scheint, sondern übergeschichtlich wird… Der große Denker ist in seiner Ursprünglichkeit original… Die Originalität bedeutet einen Sprung in der Geschichte. Sie ist das Wunder des Neuen… Der große Philosoph hat eine innere Unabhängigkeit gewonnen, der die Starrheit fehlt… Die Unabhängigkeit des Philosophen ist bleibende Aufgeschlossenheit… Einsamkeit hält er aus… Die Philosophen haben uns geholfen, zum Bewusstsein unseres Denkens, der Welt, des Seins, der Gottheit zu kommen. Sie erhellen, über alle besonderen Zwecke hinaus, unseren Lebensweg im Ganzen, sind ergriffen von den Fragen der Grenzen, suchen das Äußerste. Ihr Wesen ist die Universalität (S. 33ff.).

Ausgehend von diesen und etlichen weiteren Kriterien sowie von seinen eigenen Vorlieben und Vorbildern erläutert Jaspers nun in drei umfangreichen Abschnitten seines Werks Die maßgebenden Menschen unter den Philosophen (Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus); Die fortzeugenden Gründer des Philosophierens (Platon, Augustinus und Immanuel Kant) sowie Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker (vorsokratische Denker wie Anaximander, Heraklit und Parmenides; aber auch Plotin, Spinoza und Laotse sowie Anselm und Nagarjuna).

Man mag über diese Auswahl von philosophischen Denkern (manche waren viel eher Religionsgründer als Philosophen) bei der einen oder anderen Person durchaus erstaunt sein und sie vorrangig auf die persönlichen Neigungen des Autors zurückführen. Obwohl Jaspers mit seiner Auswahl einige Figuren der Geistesgeschichte würdigte, die meines Erachtens nur teilweise fortschrittlichen Werten verpflichtet waren, kann man jedoch seiner monumentalen, kenntnisreichen und einfühlsamen Gesamtschau der Weltphilosophie die grundsätzliche Hochachtung nicht versagen. Mit diesem Text bestätigte er für sich selbst eine Charakterisierung des Philosophen, die einst Ralph Waldo Emerson formuliert und Friedrich Nietzsche als Motto für Die fröhliche Wissenschaft (1882) übernommen hat: „Dem Philosophen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Ereignisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich.“