49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Kunst & Literatur

Wittgensteins Neffe - Eine Freundschaft

Autor*in:Thomas Bernhard
Verlag:Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1987, 176 Seiten
Rezensent*in:Jutta Riester
Datum:22.01.2014

Im Diderot-Jahr 2013 war öfter von Rameaus Neffe die Rede als einem Büchlein, das einem die aufklärerischen Gedanken Diderots nahe bringen könne. Noch ansprechender war für mich jedoch ein Buch, das mir in einem kleinen, verkramten Schöneberger Buchladen untergekommen ist, und das mich begeistert hat, weil ich seit meinen Klagenfurter Tagen Thomas Bernhards Literatur immer einmal kennen lernen wollte, und weil ich Mühe hatte, in Rameaus Neffe „reinzukommen“. Bestimmt gibt es Gemeinsamkeiten, z.B. die Kritik der Neffen am herkömmlichen, zuweilen aufgeblasenen und das Eigentliche aus dem Blick verlierenden Kunstbetrieb. Beide standen im Schatten eines berühmten Onkels, wobei Paul Wittgenstein (1907-1979) über seinen Onkel nichts Negatives verlauten ließ. Ein weiteres Gemeinsames ist die Redundanz. Bei Diderot geht der Dialog weiter und weiter und entwickelt sich, aber man wartet vergeblich auf eine Handlung. Bei Thomas Bernhard ist es der Schreibstil: Er schreibt unendliche Bandwurmsätze und fast ohne Punkt und Komma. Kapitel gibt es bei ihm schon gar nicht. Die vielen Wiederholungen muten teilweise wie musikalische Variationen an.

Thomas Bernhard, österreichischer Schriftsteller, lebte von 1931 bis 1989. Er wuchs als uneheliches Kind – von der Mutter abgelehnt, vom Vater verleugnet – bei seinen Großeltern auf und wurde vom Großvater, der ebenfalls Schriftsteller war, geliebt und gefördert. Bernhard wurde fünfzehnfach ausgezeichnet. Wichtige Werke von ihm sind Frost, Holzfällen, Auslöschung und das Drama Heldenplatz.

Nachdem ich mich an den eigenwilligen Bernhardschen Schreibstil gewöhnt hatte, hat mich die Erzählung Wittgensteins Neffe und dieser Teil seiner Autobiografie gefesselt, in ihrer Themenvielfalt bereichert und in der Schilderung der Freundschaft zwischen Paul Wittgenstein und Thomas Bernhard emotional berührt. Humorvolle Begebenheiten wie die Preisverleihung des Grillparzerpreises („eine echt österreichische Perfidie“, S. 106) an Bernhard oder die vergebliche Irrfahrt 350 km durch halb Österreich auf der Suche nach einer Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung lassen einen an die eigene sporadische Verzweiflung bei bestimmten Unterfangen denken und das Schmunzeln-Können, das einen manches Mal im Nachhinein ob des Kafkaesken oder der Godot-Haftigkeit von solchen Situationen erfasst. Bei Bernhard heißt es sinngemäß, man sollte sich nur an Orten aufhalten, wo es die Neue Zürcher Zeitung gibt: Hier waren die Freunde Wittgenstein und Bernhard einhelliger Meinung. Ihr Zorn richtete sich „gegen dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig geradezu abstoßend größenwahnsinnige Land“ Österreich.

Bernhard ist seinem Freund Wittgenstein unendlich dankbar – ohne ihn und ohne seinen „Lebensmenschen“, wie er seine Lebensgefährtin bezeichnet, meint er, hätte er nicht überlebt –, und er würdigt ihn unendlich liebevoll. Er sieht ihn als kongenial mit dessen Onkel Ludwig an, nur dass Paul seine Gedanken nicht niederschrieb, sondern praktizierte: „Ich habe niemals vorher einen Menschen mit einer schärferen Beobachtungsgabe, keinen mit einem größeren Denkvermögen gekannt. Nur hat der Paul dieses sein Denkvermögen genauso ununterbrochen beim Fenster hinausgeworfen, wie sein Geldvermögen (das er großzügig an Freunde verteilte, JR), aber während sein Geldvermögen … sehr bald erschöpft gewesen war, war sein Denkvermögen tatsächlich unerschöpflich; … es vermehrte sich (gleichzeitig) ununterbrochen, je mehr er von seinem Denkvermögen zum Fenster (seines Kopfes) hinauswarf, desto mehr vergrößerte es sich, das ist ja das Kennzeichen solcher Menschen, die zuerst verrückt und schließlich als wahnsinnig bezeichnet werden, …es wird … naturgemäß immer bedrohlicher und schließlich kommen sie mit dem Hinauswerfen … nicht mehr nach und der Kopf hält das … nicht mehr aus und explodiert. So ist Pauls Kopf ganz einfach explodiert, … weil er … nicht mehr nachgekommen ist. So ist auch Nietzsches Kopf explodiert. So sind alle diese verrückten philosophischen Köpfe letzten Endes explodiert…“ (38f.).

Diese Freundschaftsbeschreibung ist traurig und schön und ehrlich: Zum Ende Wittgensteins hin hat Bernhard seinen vereinsamenden Freund gemieden, weil er Furcht hatte, dem Tod ins Auge zu sehen – ein Thema, das ihn, den Lungenkranken, seit seinem 18. Lebensjahr beschäftigte. Thomas Bernhard schreibt selbstreflexiv über seine Haltung am Ende dieser Freundschaft: „Wir meiden die vom Tod Gezeichneten und auch ich hatte dieser Niedrigkeit nachgegeben … Ich bin kein guter Charakter. Ich bin ganz einfach kein guter Mensch.“

Zwischendurch atmet diese Erzählung Wiener Luft und damit die Atmosphäre der Künstler-Bohème der damaligen Zeit, und man bedauert, nicht dabei gewesen zu sein, wenn die beiden Freunde ihrer „Kaffeehausaufsuchkrankheit“ frönen und aus ihren Beobachtungs- und Bezichtigungsausschweifungen über selbstgefällige und Torte mampfende Zeitgenossen  philosophische Dialoge z.B. über Schopenhauer entstehen. Auch Feststellungen wie das Unaushaltbare sowohl des Land- als auch des Stadtlebens und die Bevorzugung des Unterweg-Seins zwischen zwei Orten regen zu eigenen Betrachtungen an. Eine wenn auch groteske, so doch anregende und unverzichtbare Freundschaft, die in ein Stück Literatur mündete, das ich nicht missen möchte.