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Kunst & Literatur

Kulturgeschichte der Neuzeit

Autor*in:Egon Friedell
Verlag:dtv, München 1976, 2 Bände, 1571 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:04.04.2024

Sachbücher lassen sich grob in zwei Klassen einteilen: Die einen arrangieren mit wissenschaftlicher Akribie ihr Material um einige wenige Gedanken; die anderen wuchern mit ihrer Ideen-Vielfalt, die sich dann wie von selbst um einen Gegenstand gruppieren. Zu den Autoren der letzteren Klasse zählte Egon Friedell (1878-1938) mit seiner Leidenschaft für die Kulturen der Antike und der Neuzeit. In Wien war er eine bekannte Größe der Bohème zwischen den beiden Weltkriegen. Von seiner Berufstätigkeit als Schauspieler bei Max Reinhard, Kabarettist, Journalist und Schriftsteller erholte er sich regelmäßig in den einschlägigen Kaffeehäusern der Stadt.

Dort entstanden auch seine insgesamt drei Kulturgeschichten (Alt-Ägypten; griechischen Antike; Neuzeit); geplant waren noch weitere Bände über die römische Antike sowie über die frühchristliche Zeit. 1938 allerdings, nach dem sogenannten "Anschluss" Österreichs an das faschistische Deutschland, reagierte Friedell aus Verzweiflung über eine drohende Deportation mit einem Sprung aus dem Fenster des dritten Stocks. Egon Friedmann, wie er ursprünglich hieß, entging so der Verhaftung durch die Gestapo. Den Suizid vollzog er mit der ihm eigenen Höflichkeit, indem er die Passanten aufforderte, ihm dort unten den Weg freizumachen.

Von den tausendfünfhundert Seiten seiner Kulturgeschichte der Neuzeit (1927-31) soll hier die Rede sein. Gelesen habe ich das dicke Buch in meinem Leben bisher zweimal, und vor der Zeit von Wikipedia war es mein Standard-Nachschlagewerk in vielen historischen Fragen. Friedell kannte nicht nur in Wien alle und jeden - von Peter Altenberg bis Rudolph Steiner. Das Namens-Register seiner Kulturgeschichte umfasst 30 zweispaltige Seiten. Seine Daten-Massen flößte er sich lesend auf dem Bett ein, und da er von veganer Ernährung wenig hielt, trug ihm dies eine gewisse Leibesfülle als Analogon zu seiner Gedankenfülle ein.

Friedells kulturgeschichtliche Betrachtungsweise war unkonventionell. Als Schauspieler wusste er darum, was auf das Publikum wirkte: Es war und ist nicht allein das Wort, sondern eine vom Bühnenzauber evozierte Situation. Dieser Sachverhalt wurde für Friedells kulturgeschichtlichen Blick konstitutiv. Dieser richtet sich vorzugsweise auf jene sichtbaren Phänomene, die stilbildend waren und sind und so den Wandel einer Epoche erst fassbar machen. Friedell interessierten die Schminke und Kostüme einer Epoche, ihre Frisuren und ihre Moden. Und er wusste um die Wirkung von Kulissen, seien es die Möbel einer guten Stube, die Bauweise von Schlössern, Gottes- und Menschenhäusern und natürlich die Malerei bzw. Plastik. Wer, was und wie man isst, interessierte ihn ebenso wie das Liebesleben und seine Abirrungen.

Einleitend beantwortet der Verfasser der Kulturgeschichte der Neuzeit die Frage, wann denn eigentlich die Neuzeit eingesetzt habe, mit der bündigen Datierung auf das Jahr 1347. Damals habe die „Schwarze Pest“ den letzten Anstoß gegeben, das Ende des christlichen Mittelalters einzuläuten. Die unsichtbare Bedrohung durch den Pestbazillus habe einen Individualisierungs-Schub ausgelöst, der die von der neuen Geldwirtschaft unterminierte Feudalordnung überforderte.

Im Begriff des Feudalismus steckt ein für uns weitgehend fremdes Lebensgefühl. Im christlichen Mitteleuropa, so erklärt es uns Friedell, habe jeder eine metaphysisch-idealistische Brille getragen, die alles irdische Dasein als allegorisches Bild des göttlichen Willens betrachtete. Am sinnfälligsten kommt dieser seelisch-geistige Sachverhalt zum Ausdruck in der Vorstellung des „Corpus-Christi-Mysticum“. Thomas von Aquin hatte die christliche Weltordnung in die Allegorie eines Menschenkörpers gefasst, dessen Organe er quasi als biologisches Funktionssystem begriff. Ein solches Gesellschaftsbild garantierte eine für jedermann plausible Ordnungsvorstellung, die jedem eine unveränderliche, da gottgewollte Rolle zuwies. Die christlich-idealistische Brille, die zuvor überall den Willen Gottes erkennen ließ, wurde mit Beginn der Neuzeit eingetauscht gegen den wissenschaftlich-materialistischen Blick, der alles in ein „Nichts-als“ verwandelte. Was man die scholastische Philosophie nennt, war der theologische Abgesang auf eine Lebenswelt, deren göttlicher Garant unbemerkt dahingeschieden war.

Friedell lässt die Neuzeit recht eigentlich jedoch erst im Barockzeitalter beginnen. In dieser Phase setzt sich ein neuartiger Kulturwille durch. Wo kein Gott mehr die Wege weist, muss der Menschengeist für Natur und Gesellschaft die Regie übernehmen. Sein Betätigungsfeld ist vordringlich die Herrschaftsfrage in der Politik. In Frankreich verordnete ein Herrscher neuen Typs dem Land eine Radikalkur. Der Sonnenkönig als Erfinder des Absolutismus wurde zum politischen, aber auch zum kulturellen Vorbild für das neue Europa; Ludwig XIV. eliminierte den verbliebenen Rest mittelalterlicher Solidargemeinschaft.

Die Philosophie von René Descartes habe, so Egon Friedell, hierzu das geistige Seziermesser geliefert, mit dem sich die menschliche Vernunft aus dem tierischen Organismus schneiden ließ. Unser Intellekt sei zur neuen Heimstatt des Menschlichen erhoben, der Leib jedoch zum Körper erniedrigt worden. Fortan gehörte er nicht mehr zur humanen Erbmasse und büßte seine ihm eigentümliche Würde ein. Als Ding unter Dingen war er der neuen Wissenschaft untertan und musste den so erkannten Gesetzen gehorchen wie das Volk seinen Sonnenkönigen.

Man praktizierte Staatskunst in einem doppeldeutigen Sinne. Der Kunst fiel die Aufgabe zu, diese Welt der neuen Sachlichkeit mit dem Schein des Schönen auszustaffieren. Die zur Mechanik herabgewürdigte Natur galt es nach allen Regeln der Kunst zu verkünsteln. Von dem, was dem mittelalterlichen Menschen heilig gewesen war, blieb nur der Schein und die Scheinheiligkeit zurück. Wem der schöne Schein nicht genügte, blieb der Rückzug ins Innere. Pietismus und Quietismus hielten an der alten Seele fest, um deren Verständnis sich Sigmund Freud ein Vierteljahrhundert später erst kümmern sollte.

Das von Friedell hervorgehobene Paradoxon von geistigem Materialismus und emotionaler Sentimentalitäts-Anfälligkeit kam als Gegensatz im 17. Jahrhundert am sinnfälligsten in der Architektur zum Ausdruck. Die Bausubstanz einer Barock-Kirche übersetzt komplexeste Formen sphärischer Geometrie in ein steinernes Gefüge; der Intellekt triumphiert im Kulissenbau. Ihm assistiert die Malkunst, die das Ganze mit ein wenig zu dick aufgetragener Schminke zum Gesamtkunstwerk macht. Der Kirchgänger mutiert zum Zuschauer einer Inszenierung. Sie zielt auf Überwältigung durch ein ganz großes Welttheater. Alle Heiligen und sogar der liebe Gott müssen hier mitspielen.

Von der Barockzeit bis zum 20. Jahrhundert warten auf den Leser von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit noch ca. eintausend Seiten. Man staunt dabei immer wieder über die universale Bildung und den sprühenden Geist des Verfassers. Auf den allerletzten Seiten kommt Friedell schließlich auf die Psychoanalyse und auf Sigmund Freud als Dichter zu sprechen. Gleich seinem Vorbild Moses sei dieser zum Opfer seiner Selbsteinschätzung geworden. Moses habe fälschlicherweise in seinen dem Volk Israel überbrachten Gesetzestafeln die Verheißung des Gelobten Landes gesehen. Der gemeinsame Weg durch die Wüste sei letztlich das Gelobte Land gewesen, und dies war Moses eigentlicher Beitrag zur Kultur.

Freuds Bedeutung liege nach Friedell darin, dass er den falschen Glauben an die Rolle des Bewussten im Menschenleben zerstört habe. Freud habe wie Moses über 40 Jahre lang eine Wüste durchquert, um zum Stifter einer heidnischen Sekte zu werden. Seine Psychoanalyse sei - bei aller Bedeutung für den Gang der heutigen Kultur - letztlich eine Religion, die sich als Wissenschaft ausgebe und ihre Konkurrenten verfolgt habe.

Friedell äußert abschließend in seiner Kulturgeschichte die Hoffnung, dass die christliche Vorstellung der Nächstenliebe untergründig fortwirke und zu einer Wiedergeburt des Humanen beitrage. Für einen in dieser Hinsicht Gottlosen wie mich übersetze ich das in meinen Glauben als einen Modus der Solidarität von uns Menschen mit allem, was in unsere tatsächliche Verantwortung fällt: die Mitmenschen; die Lebensarbeit; alle Themen und Problembereiche, deren Pflege uns anheimgegeben ist.