49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Kunst & Literatur

Doktor Faustus - Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freund (1947)

Autor*in:Thomas Mann
Verlag:S.Fischer-Verlag 1967, 806 Seiten
Rezensent*in:John Burns
Datum:13.09.2023

Das unglückliche Leben des genialen Komponisten Adrian Leverkühn wird in Doktor Faustus von einem Philologen und Lehrer namens Serenus Zeitblom erzählt. Zeitblom ist selber  Hobbymusiker und wird von seinen Freunden nach einem gemeinsamen Abendessen gelegentlich aufgefordert, auf seinem Lieblingsinstrument, einer Viola d’Amore, ein Ständchen zu spielen. Das siebenseitige Streichinstrument, das heute eher der historischen Aufführungspraxis zugeordnet würde, ist wegen seiner zarten Klänge für die Hausmusik bestens geeignet.

Bieder und bescheiden in seiner Person wie auch in seinen musikalischen Ambitionen, gelingt es Zeitblom nur sehr stockend, von dem Schicksal seines einstweiligen Schulkameraden Leverkühn zu erzählen. Sowohl die individuelle Tragik seines Freundes als auch der Zusammenbruch Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkriegs übersteigen das Fassungsvermögen des Erzählers, dessen Humanismus sich auf die Bewunderung der Kulturleistungen von Dichtern und Denkern beschränkt. Bedauern scheint sein Hauptaffekt zu sein. Zu einem wehrhaften Humanismus kann sich der schüchterne Zeitblom nicht durchringen.

Im Subtext des Romans befasst sich Thomas Mann mit der Frage, wie die blühende Kultur  Deutschlands an Dekadenz, Destruktivität und Irrationalität erkranken konnte. Neben wirtschaftlichen und politischen Ursachen muss der Nationalsozialismus als Bazillus in der Kulturtradition schon länger vorhanden gewesen sein, postulierten einige englischsprachige Intellektuelle. Walther Kaufmann, Fritz Stern und andere haben allerdings nach dem Krieg in akribischer Feinarbeit Philosophen wie Hegel und Nietzsche vor solchen plumpen Vorwürfen in Schutz genommen, so dass die Werke dieser bedeutenden Vertreter des deutschen Idealismus und der Lebensphilosophie an US-amerikanischen Universitäten wieder kritisch erörtert werden konnten. Angesichts dieser punktgenauen Forschungs-Ergebnisse von Kaufmann, Stern und anderen darf man sich fragen, ob Thomas Mann in Doktor Faustus das Krebsübel der Nazi-Ideologie wirklich angemessen veranschaulicht hat.

Adrian Leverkühn entwickelt sich im Roman nach einer halbwegs normalen Schulzeit zu einem verschrobenen, verstiegenen und manierierten Künstler (Ludwig Binswanger), der seine Zeitgenossen ironisch spüren lässt, dass er die Kultur von einem übergeordneten Standpunkt aus betrachtet. Er selber will die Grenzen der herkömmlichen Musik überschreiten, trachtet nach seinem Werk und zieht sich auf einen entlegenen Bauernhof zurück, wo seine Bewunderer ihn gelegentlich besuchen dürfen. Er soll nicht völlig vereinsamen. Die Freunde ahnen nicht, dass sich der Komponist bei einem Bordellbesuch an Syphilis angesteckt hat. Es ist Leverkühn nicht gelungen, seinen Sexualtrieb asketisch zu unterdrücken, zumal er erotische Lyrik und eine Komödie des englischen Dichters Shakespeare vertont, in welcher die Problematik des Komponisten beredt geschildert wird.

In Love‘s Labour‘s Lost (dt. Verlorene Liebesmüh) entscheidet sich Ferdinand, König von Navarra, einige Jahre seines Lebens ausschließlich der Wissenschaft und den Künsten zu widmen. In dieser Zeit sollen auch seine engsten Vertrauten, die Lords Berowne, Longaville und Dumaine, schwören, keine Kontakte zu Frauen zu unterhalten und stattdessen asketisch und frei von äußeren Ablenkungen arbeiten und forschen. Die schöne Prinzessin von Frankreich mit ihren drei Hofdamen zeigen den eitlen Intellektuellen jedoch, wie müßig ihr Plan ist. Ohne Eros werden sie von der Welt, die sie erforschen wollen, nichts verstehen. 

So lässt sich denn auch Leverkühn auf eine - für ihn allerdings tödliche - Liebschaft ein. Als gehemmter Mann traut er sich eine Partnerschaft nicht zu, sondern sucht sein Liebesglück in einer flüchtigen Bekanntschaft mit einer Prostituierten, die er anschließend verherrlicht und in einer tonmalerischen Übersetzung ihres Namens Hetaera esmeralda musikalisch verewigen will. 

Leverkühn verkauft des weiteren seine Seele an den Teufel - angeblich, weil er nur unter erheblichem Stress seine Meisterwerke komponieren kann. Der Teufel soll ihm einige produktive Jahre gegönnt haben, bevor er an der Geschlechtskrankheit stirbt. Kunst und Krankheit sind nun in der Persönlichkeit des Komponisten auf seltsame Art verschränkt.  Der persönliche Umgang mit ihm kann tödliche Folgen haben. Zwei Ärzte, die ihn behandeln, sterben unter mysteriösen Umständen. Der fünfjährige Nepomuk, sein Neffe, den der Komponist in seinen Haushalt aufnimmt, erkrankt an einer Hirnhautentzündung und erleidet einen qualvollen Tod. 

Rupert Christiansen schreibt in seinem Artikel Music in the Novel, dass der Verlag dem Roman Doktor Faustus eine Musik-CD hätte beilegen sollen, um die ausführlichen Beschreibungen der von Arnold Schönberg entwickelten 12-Ton-Musik mit Beispielen zu veranschaulichen. Im Roman steht Adrian Leverkühn dieser sehr mathematisch wirkenden Art des Komponierens Pate. In der Tat wirken die Exkurse in Doktor Faustus wie musikologische Werkanalysen, die einen durchschnittlich gebildeten Leser überfordern und mitunter auch langweilen. 

Als ich während meines Germanistik-Studiums an der Cambridge University das Werk in Übersetzung las, fiel mir die verzweifelte Aussage Leverkühns auf, dass die Neunte Symphonie Beethovens nicht hätte komponiert werden dürfen. Das Freiheitsideal, das Schiller in seiner Ode An die Freude zum Ausdruck brachte, welche Beethoven im Chorsatz vertonte, sei damals wie heute auf taube Ohren gefallen. Die Menschheit habe zur Verwirklichung menschlicher Freiheit noch einen weiten Weg vor sich. 

Der Roman Doktor Faustus ist in einer Lebensphase des Autors entstanden, als er aufgrund der fast vollständigen Zerstörung der deutschen Kultur ziemlich verzweifelt war. Möglicherweise zog er sich damals als Schutzreaktion in seine streng intellektuelle, geordnete Welt zurück, ähnlich wie Adrian Leverkühn, der die klaren Linien des Kontrapunkts bei Palestrina und anderen Renaissance-Komponisten über alles schätzte.

Beim Lesen empfand ich den Roman besonders in den intellektualisierenden Passagen als sehr anstrengend. Die Fähigkeit des Autors, in wenigen Zeilen eine Romanfigur zu skizzieren, ist gleichwohl bewundernswert. Hin und wieder wird der Text mit humoristischen Karikaturen aufgelockert, so etwa in der Schilderung des französischsprachigen Musik-Impressarios, der Leverkühn in Versuchung bringen will, als er verspricht, ihn in allen bedeutenden Konzertsälen der Welt bekannt zu machen.

Dennoch habe ich mich bei der Lektüre dieses Romans überfordert gefühlt und empfehle daher eher jene Werke Thomas Manns, die leichter zugänglich sind. Alle, die nach der Lektüre des eher schwerfälligen Doktor Faustus ein Antidot suchen, können sich beispielsweise dem Schelmenroman Felix Krull zuwenden. 

Literatur:
Christiansen, R.: Music in the Novel, in: Arnold. D. (ed.), The New Oxford Companion to Music, Vol 2, Oxford University Press, Oxford 1983, 1269-1271.