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Kunst & Literatur

Die Manon Lescaut von Turdej

Autor*in:Wsewolod Petrow
Verlag:Weidle Verlag, Bonn 2012, 124 Seiten
Rezensent*in:Jutta Riester
Datum:30.07.2013

Wsewolod Petrow (1912-1978) trat in seinem späteren Leben als Petersburger Kunsthistoriker in Erscheinung. Sein belletristisches Werk ist eher schmal; einige philosophische Miniaturen gehören dazu. Der Kreis um Michail Kusmin mit einer Vorliebe für das 18. Jahrhundert, eine Art Parallelkultur, war seine geistige Heimat und weist ihn als sowjetkritisch aus.

In Russland war die Manon keine Unbekannte – und dies nicht so sehr über den literarischen Urvater, den aus der Bretagne stammenden Abbé Prévost – dem übrigens die zu Grunde liegenden Liebesabenteuer selbst zugeschrieben werden –, oder durch die vier Vertonungen des Stoffes (Auber, Massenet, Puccini, Henze), sondern durch Manon-Gedichte, z.B. von Kusmin und Zwetajewa. Diese findet man im Nachwort des hier angezeigten Buches.

Die Manon Lescaut von Turdej ist eine zauberhafte und ergreifende Liebesgeschichte, die an einem außergewöhnlichen Ort spielt, in und um einen Spitalzug im Weltkrieg. „Wir fuhren so lange, dass wir allmählich den Überblick über die Zeit verloren. Man fuhr uns zur neuen Front. Niemand wusste, wohin man uns schickte. Wir fuhren von Station zu Station, als ob wir uns verirrt hätten. Man hatte uns wohl vergessen.“

Die Angaben über das Gebiet und den Kriegsgegner sind reduktionistisch, nur einmal tauchen Ortsnamen auf: Turdej – „Der Betriebsbahnhof hatte einen … irgendwie bretonisch klingenden Namen“; dies ist der Hinweis auf Prévost – und das geplünderte, gegenüberliegende russische Dorf Kamenka; beide liegen im Gouvernement Tula, in dem viele russische Literaten beheimatet waren. Genau zu dem Zeitpunkt, als die Liebenden zusammen kommen, meldet sich die Realität in Form von Hinweisen auf den Krieg, und: „An diesem Punkt beginnt die Zerstörung der utopischen Welt des Erzählers“, schreibt Oleg Jurjew im Nachwort der Novelle.

Der Protagonist und Ich-Erzähler bleibt zunächst ein Beobachter der auf uns Heutige grotesk anmutenden Eingangsszene. Er hat Herzanfälle, Atemnot und Todesangst und liegt meist auf seiner oberen Pritsche. Er liest Die Leiden des jungen Werthers auf Deutsch, was ihn als Intellektuellen und Überbleibsel der vorrevolutionären sowie Gegner der sowjetischen Ära kennzeichnet. Nur mit einer Ärztin, die seinen Gesundheitszustand im Blick hat, und seinem starken und „ritterlichen“ Pritschennachbarn unterhält er sich zuweilen.

Die unter den untersten Pritschen hausenden Krankenschwestern werden als unkultiviert, wuselig, streitsüchtig und „vogelleichtsinnig“ geschildert. „Die Mädchen waren weniger unterschiedlich, so dachte ich wenigstens, wenn ich sie von der Pritsche aus betrachtete.“ Seine Einstellung ändert sich, als er Vera, die den Wunsch hat, zum Theater zu gehen, näher kennen lernt. „Sie können Schauspielerin werden, Verotschka’, sagte ich, ‚das Wichtigste, was für die Kunst benötigt wird, haben Sie: Sie sind keine Nachahmerin.’ – ‚Wie das?’ fragte Vera. – ‚Alle gleichen einander im Leben, der eine ahmt den anderen nach oder alle zusammen noch jemanden, ohne das selbst zu wissen. Niemand ist fähig, auf seine eigene Weise zu leben. Alle sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie aber leben, wie Sie selbst wollen, wie es Ihnen eigen ist’, sagte ich. – ‚Ja’, sagte Vera mit einiger Verwunderung.“

Der namenlose Ich-Erzähler, wahrscheinlich Offizier, findet Vera hinreißend, entzückend, zauberhaft, von natürlicher Ausstrahlung und kann dies auch mitteilen. Er betrachtet sie, die mit zwanzig Jahren schon einiges erlebt hat, ohne moralisierendes Urteil. Er lässt ihr alle Freiheiten, nicht ohne – mit Grund – eifersüchtig zu werden, kommt aber zu dem Schluss, dass er sie nicht nicht lieben kann und dies künftig seine ureigenste Angelegenheit sein wird.

Die Novelle ist durchsetzt mit philosophischen Gedanken des Ich-Erzählers und seinen Selbsterkenntnissen. Er denkt Sätze wie z.B.: „Alles wird zu einer Abstraktion, wenn die Handlung ohne Kulisse erfolgt“ (angesichts einer freudlosen, tristen Umgebung). Neben der Entwicklung der Liebe zwischen dem Offizier und Vera – nach komischen und traurigen Episoden, Eifersuchtsattacken und schadenfrohen Bemerkungen der Zugbesatzungsmitglieder – und deren jähem Ende erfährt der psychologisch Interessierte viel über die Krankheit des Protagonisten, die in der Verliebtheit zunächst ausbleibt, und deren Zusammenhang mit seinen Ängsten.

Die Kommentare der Bachmann-Preisträgerin Martynova klären kompetent über die russische Literatur auf. Im Nachwort ihres Ehemannes Jurjew erfährt man einiges über die kulturelle Entwicklung im Russland der Stalin-Ära, von der Parallelkultur neben der offiziellen „barbarischen“, und man bekommt eine Ahnung davon, warum diese wunderschöne Erzählung erst 60 Jahre nach ihrem Entstehen zur Veröffentlichung und jetzt zur Übersetzung gelangt ist.