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Kunst & Literatur

Die Brüder Karamasow

Autor*in:Fjodor Dostojewskij
Verlag:S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2022, 1265 Seiten
Rezensent*in:John Burns
Datum:21.01.2024

In meinem Wohnzimmer hängt ein schönes Plakat, das ich 2022 beim Besuch einer Aufstellung im Museum Barberini in Potsdam kaufte. Eine Mutter mit Sonnenschirm im leichten Sommerkleid wartet, bis zwei ihrer Kinder Blumen pflücken, bevor der Spaziergang durch die Blumenwiese fortgesetzt wird. Im Hintergrund steht ein Kindermädchen, welches ein kleines Kind auf dem Arm trägt. Impressionismus in Russland - Aufbruch zur Avantgarde hieß die Ausstellung. Ich habe seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in Februar 2022 manchmal gedacht, dass das Plakat fehl am Platz sei; ich habe es aber immer noch an der Wand. Mein Nachbar zieht das Bild meinem anderen Plakat des abstrakten Malers Mark Rothko vor. Nicht nur ihm zu Liebe, sondern auch wegen meiner Wertschätzung der russischen Kultur und der Kultur im Allgemeinen soll mich das Bild weiterhin beim Arbeiten am Schreibtisch beflügeln.

Aber nun zu Dostojewski. Der russische Autor erzählt in seinem Roman Die Brüder Karamasow die Geschichte einer erbarmungslos zerrütteten Familie. Das Familienoberhaupt Fjodor Pawlowitsch ist ein gewissensloser Lüstling, der seine Kinder vernachlässigt hat, dem Alkohol zugetan ist und seinen Sohn Dmitrij aus erster Ehe um seine Erbschaft betrügt. Dmitrij, der seinem Vater in Affektivität und Laszivität um nichts nachtsteht, rivalisiert mit ihm auch noch um die Gunst einer femme fatale, die ohne eigenes Vermögen auf wohlhabende Gönner angewiesen ist. Agrafena, die mit Kosename Gruschenka heißt, wehrt sich gegen ihre Rolle als Liebesobjekt der Männer, indem sie sich nie auf eine feste Beziehung einlässt.  Im Verhältnis zwischen Gruschenka und Katerina, der ehemaligen Verlobten Dmitrijs, kommt es immer wieder zu eklatanten Eifersuchtsquerelen: „Die Frau, die auf eigene Hand ihre Reize nutzt als Abenteuerin, als Vamp oder als femme fatale, bleibt ein beunruhigender Menschentyp,“ schrieb Simone de Beauvoir in Das andere Geschlecht - Sitte und Sexus der Frau (1949/1984).

Kampfgelüste, Eroberungs- und Unterwerfungsfantasien, Begierde und Verzweiflung übertönen die Liebesbeteuerungen von Vater und Sohn, die um die Gunst derselben Frau buhlen. Ob sie wirklich liebesfähig sind, spielt letztlich keine Rolle, wenn sie über Geld verfügen, mittels dessen sie eine Frau an sich binden können. Distanzierter und abgeklärter als die beiden Streithähne Fjodor und Dmitrij hat Iwan, der ältere Bruder aus zweiter Ehe, die Rolle des liberalen Intellektuellen einstudiert. Der jüngere Bruder Alexej, auch als Aljoscha bekannt, bereitet sich im Kloster auf ein Leben als Mönch vor, bis der im Sterben liegende Pater Sossima, der eine Art Urchristentum propagiert, ihn auffordert, sich dem Leben außerhalb des Klosters zuzuwenden.

Aljoscha ist einfühlsam, wohlwollend und hilfsbereit. Er glaubt an das Gute im Menschen und hört zum Beispiel interessiert zu, als sein Bruder Iwan, der weder an Gott noch an die Ewigkeit glaubt, ihm eine Geschichte erzählt, um seine religiöse Skepsis zu veranschaulichen. Während der spanischen Inquisition, erläutert Iwan, ist Jesus noch einmal zur Erde zurückgekehrt, wo er sich unter die Menschen begibt, die in völliger Abhängigkeit von der Kirchenobrigkeit leben. Jesus verkündet seine Lehre, nach welcher jeder durch inniges Gebet und gute Taten die Liebe Gottes erringen kann. Als er dem einfachen Volk durch einige Wunderheilungen imponiert, wird er vom Großinquisitor als Störenfried empfunden und verhaftet. Dieser erklärt ihm, dass das Volk ohne innere religiöse Überzeugung glücklich sei. Ein Mensch mit individuellem Gewissen wird sich nur unglücklich machen, wenn er über Glaubensfragen zu grübeln beginnt, welche allesamt durch die Doktrinen der Katholischen Kirche schon geklärt sind. Der Großinquisitor ist bereit, Jesus aus dem Gefängnis zu entlassen, wenn er das menschenfeindliche Regime anerkennt, welches die Inquisition durch Mord und Folter errichtet hat. 

Obwohl alle drei Brüder einen Groll gegen ihren Vater hegen, der sie in der Kindheit so sträflich vernachlässigt hat, fällt der Verdacht auf Dmitrij, als Fjodor Pawlowitsch ermordet wird. In den Augen des Staatsanwalts sind genügend Beweismittel und Zeugenaussagen vorhanden, um ihn des Mordes zu bezichtigen. Dmitrij hatte ein klares Motiv, seinen Vater zu beseitigen und ihm das Geld zu entwenden, das ihm seiner Meinung nach zustünde. Ferner ist das cholerische Temperament des vermeintlichen Täters überall bekannt. Hat er nicht auch noch bei der Flucht aus dem Garten des Vaters den alten Diener Grigorij mit einem Stößel fast getötet, als dieser ihn festhalten wollte?

So überzeugend, wie das alles klingt, werden in einem ausführlichen Prozess alle handfesten Hinweise auf den Täter Dmitrij zu Recht in Frage gestellt. Wer der wirkliche Mörder war, soll aber an dieser Stelle nicht verraten werden, falls jemand den Roman noch nicht gelesen hat. Beim Gerichtsprozess gegen Dmitrij kommt es zu tumultartigen Szenen, als Iwan die Anwesenden beschimpft. Nicht nur er selber und der wirkliche Täter, sondern alle Anwesenden seien Vatermörder, schreit er in den Raum hinein. Nur wer schadlos sei, darf einen anderen zu Tode verurteilen, wird im Neuen Testament von Jesus von Nazareth gesagt (Johannes 8,7).

Schicht um Schicht werden bei diesem Ausbruch und bei der emotional geladenen Gegenüberstellung von Katarina und Gruschenka affektive Ebenen in der Persönlichkeit der Hauptpersonen freigelegt, wobei das brüchige Fundament der offiziellen Rechtsprechung und der gesellschaftlichen Moral zunehmend sichtbar wird. Moralisch verhalten sich die Menschen, zeigt der Psychologe Dostojewski auf, wenn es ihnen Vorteile bringt, wenn sie adäquat sozialisiert sind oder beim Ausleben ihrer Wünsche und Bedürfnisse Angst vor Sanktionen haben. Die soziale Moral bedarf folglich einer Grundlegung in der christlichen Lehre, sonst wird keiner seinen Nächsten lieben. Um gut zu sein, brauchen Menschen Vorbilder und Ideale, an denen sie sich orientieren können.

Aljoscha hatte im Beisein seines Mentors Sossima gelernt, in sich hineinzuhören und auf die authentische Stimme seines Gewissens zu achten. Er ist von einer kindlichen Naivität geprägt, die auch seinen Glauben an die Menschheit und an die Unschuld seiner Brüder kennzeichnet. Iwan dagegen hat sein Gewissen mit intellektuellem Schwadronieren übertönt. Dmitrij hat in der Kindheit keine Affektkontrolle gelernt, sondern lebt seine Bedürfnisse rücksichtslos aus, bis der Schock seiner Verhaftung und Verurteilung ihn zur Besinnung bringt. Erst als er in nüchternem Zustand über sich nachdenken kann, versteht er, dass er die Aufgabe des Personwerdens verfehlt hat. Seine Verbannung in die Strafkolonie fasst er in dieser Hinsicht als Sühne seiner Daseinsschuld auf.

Wer sich für die politische Diskussion zum Thema Dostojewski und die heutige Weltlage interessiert, wird eine sachkundige Darstellung des Standpunkts des russischen Autors in Alexander von Schelting (1948) und in dem von Michail Schiskin verfassten Aufsatz Dostojewskis „russische Idee“ finden. Aus der Sicht der Tiefenpsychologie ist Dostojewski „mit Vorbehalten“ (Rattner/Danzer 2003) durchaus zu empfehlen, für jede Psychologin und für jeden Psychologen eine unentbehrliche Lektüre. Dostojewski kannte die menschliche Seele mit ihren Stimmungsschwankungen, Ängsten, Freuden, Gewissensbissen, Hoffnungen, Idealen und Träumen - wie etwa Ekaterina Makhotina 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb:

Im Westen gilt Dostojewski als Verkünder der „russischen Seele“, doch es ist falsch, ihn auf diese romantische und gefährliche Faszination zu reduzieren. Kein anderer Schriftsteller hat die westliche Kultur so stark beeinflusst wie Dostojewski. Doch die „Seele“, die er seziert, ist nicht spezifisch für sein Land – es ist die des modernen Menschen, der wir alle sind (Makhotina 2021). 

Literatur/ Internetquellen:

https://www.bibelserver.de.com, (07.01.2024).

Makhotina, E.: „Im Westen gilt … „ https:// www.nzz.ch/feuilleton ... , (07.01.2024).

Schiskin, M.: „Dostojewskis „russische Idee“ – https:// dif.uzh.ch/sites/slavicum press … ,  (07.01.2024).

Beauvoir, S. de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1984.

Rattner, J. (Hrsg.): Dostojewski. In: Vorläufer der Tiefenpsychologie. Europaverlag, 1983, 177-201.

Rattner, J./ Danzer, G.: Dostojewski mit Vorbehalten. In: Der Humanismus und der soziale Gedanke im russischen Schrifttum des 19. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, 157-176.

Uhlig, C. (Hrsg.). Von Schelling, A.: Russland und Europa. Edition tertium, Russische Bibliothek (1948) o.J.