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Kunst & Literatur

Aufklärung – Ein Roman

Autor*in:Angela Steidele
Verlag:Insel Verlag, Berlin 2022, 603 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:11.06.2023

Ein Sachbuch mit dem Titel Aufklärung hätte mich sofort zum Lesen verlockt; ein Roman mit dieser Überschrift eher nicht. Die 600 Seiten von Angela Steideles Geschichte habe ich dann auch nicht eigentlich verschlungen, obwohl sie uns die Euphorie dieser Aufbruchszeit, deren Hoffnungen auf menschenwürdiges Leben, mit vielen erhellenden Details und voll witziger Pointen lebendig vor Augen führen. Der romanhafte Faden, der sich für den Leser durch die erzählte Leipziger Aufklärungswelt zieht, ist die Liebesgeschichte zwischen Dorothea Bach, der Ich-Erzählerin, und Luise Gottsched.

Damit hat sich die Autorin die schwierige Aufgabe gewählt, eine Epoche zum Sprechen zu bringen, die einerseits beinahe drei Jahrhunderte zurückliegt und andererseits unsere Jetztzeit enorm mitprägt. Auf unterhaltsame und belehrende Weise erhalten wir bei ihr einen neuen Blick auf die Frühaufklärung; geredet und disputiert wird hier vor allem aus Sicht der Frauen. Fangen wir zunächst damit an, wer die ist, die zu uns von alledem spricht: Catharina Dorothea Bach. So hieß die älteste Tochter von Johann Sebastian Bach, der in Leipzig als Thomas-Kantor die Jahre von 1723 bis zu seinem Tode 1750 lebte. Das Familienunternehmen Bach setzte sich damals zusammen aus seiner jungen zweiten Ehefrau Anna Magdalena, die gemeinsam mit ihrer um nur sieben Jahre jüngeren Stieftochter, der Erzählerin, eine jährlich wachsende Kinderschar zu betreuen hatte, aus der sich später oftmals regelrecht geborene Musiker rekrutierten.

Steideles Roman beginnt mit einem Sonntag des Jahres 1734. Im brechend vollen Zimmermann’schen Kaffeehaus lässt Johann Sebastian Bach seine weltlichen Konzerte aufführen. Diesmal steht die Kaffeekantate auf dem Programm. Während Dorotheas Sopranstimme jubelt „Ei, wie schmeckt der Coffee süße, lieblicher als tausend Küsse“, klagt ein gleichaltriger Thomaner als genervter Familienvater in brummendem Bass „Hat man nicht mit seinen Kindern hunderttausend Hudelei?“ Der Sängerin fällt unter den begeisterten Zuhörern ein ihr noch unbekanntes Frauengesicht auf: Es ist Luise Adelgunde Victorie Kulmus, die junge Gemahlin des bekannten Sprachwissenschaftlers Johann Christoph Gottsched. Dieser war seinerzeit Philosophieprofessor an der Leipziger Universität; vor ihm hatte Christian Wolff dort die Leibnizsche Lehre vom Naturrecht publik gemacht, die mit einem rationalistischen Vernunftglauben einherging.

Gottsched fand in Leipzig, im sächsischen Klein-Paris, seine Lebensrolle als Vater der deutschen Aufklärung. Zudem inszenierte sich der Pastorensohn als ein frühfeministischer Förderer weiblicher Intellektualität. Was er mit seiner hünenhaften Gestalt und mit seiner Neigung zu modischer Kleidung gleichermaßen verkörperte, war die Rolle des stadtbekannten Liebhabers von „Weiberröcken“. Gottscheds begrenzte Fähigkeit zur ehelichen Treue ist eine der Voraussetzungen, damit das vorliegende Buch zum Roman werden konnte. Mit der Gottschedin hatte er eine überaus gebildete Frau geehelicht, deren Verhältnis mit ihrem Ehemann offenbar mehr in der Bewunderung seiner universellen Bildung fundiert war als in liebender Wechselseitigkeit. Dies wiederum war Grund genug, dass sich zwischen ihr und der Bach-Tochter mehr als nur freundschaftliche Neigungen entwickeln konnten. Überhaupt durchziehen alle möglichen Komplikationen des Liebeslebens thematisch den Roman wie ein Basso Continuo.

Mit einer Mischung aus historischen Fakten und frei Erfundenem lässt uns Steidele in der und durch die Person der Dorothea Bach am kulturellen Leben Leipzigs teilhaben; der weibliche Blick auf die Ereignisse gibt hierbei die besondere Perspektive ab, in der wir diese Aufklärungs-Atmosphäre nacherleben können. Dabei durchdringen sich die musikalische Bach-Welt und die literarischen, wissenschaftlichen und philosophischen Tendenzen der Zeit. Den atmosphärischen Hintergrund bildet die Handels- und Messestadt Leipzig, wie Goethe sie im Kontrast zum mittelalterlichen Frankfurt erlebt hat. Der junge Jurastudent gewinnt im Roman Dorotheas Zuneigung, wohingegen Gotthold Ephraim Lessing im Text von der Bach-Tochter deutlich kritischer beschrieben wird. Darüber hinaus lesen wir von Gottscheds Zusammenarbeit mit der seinerzeit berühmtesten Theaterprinzipalin, Caroline Neuber. Die Neuberin hatte sich ihm zielsicher durch die Aufnahme seines Sterbenden Cato (ein Theaterstück) in ihr Programm anempfohlen. Gottsched wiederum hoffte, dass auch von dieser Kanzel aus das Licht der Aufklärung leuchten möge.

Nun noch einige Bemerkungen zur Protagonistin des Romans: Vom Theater fühlt sie sich gleichermaßen angezogen wie von der Kunst ihres Vaters, die sie theoretisch und mit ihrem Sopran auch praktisch beherrscht. Zudem ist sie als verantwortungsbereite Älteste der Bach-Kinder in einer eigentümlichen Rolle. Mit Anna Magdalena hat der Vater ihr eine nur um wenige Jahre ältere Stiefmutter vorgesetzt. Was zum Kampf um Vorrechte hätte führen können, bleibt aus, denn Dorotheas Selbstwertgefühl gründet unter anderem auf solidarischer Identifikation mit Anna Magdalena, der sie bei ihren vielen Geburten beisteht, und deren wundervolle Sopranstimme sie bewundert.

Diese familiär-lebensweltliche Verankerung gibt Dorothea einige Selbstsicherheit, mit der sie sich Zugang zu der ihr vorerst unbekannten Welt der Aufklärer verschafft. So wird sie Mitglied von Gottscheds Deutscher Gesellschaft, in der sich die intellektuelle Avantgarde trifft. In diesem Kreis lernt sie die Eigentümlichkeiten des Dienstes am Geiste kennen, bei dem zuweilen der schöne Zweck die Mittel heiligen soll; darüber hinaus lernt sie aber auch Luise, die Gattin Gottscheds, näher kennen und schließlich auch lieben. Erfreulicherweise wird bei Steidele dabei kein Hoheslied der alleinig-lesbischen Liebe gesungen – die Frauenliebe gilt der Verfasserin nicht als Prävention aller zwischenmenschlichen Missverständnisse und Problemstellungen.

Das Zentralereignis auf den letzten Seiten des Romans ist der Siebenjährige Krieg und sein Verursacher Friedrich II. Sachsen, von den Preußen besetzt, war gezwungen, absurd hohe Kontributionen zu leisten; selbst die Leipziger Bürgerschaft musste ihr bewegliches Eigentum abgeben. 15 Jahre zuvor noch hatte der Machtantritt des „Philosophen auf dem Königsthron“ in der intellektuellen Welt Hoffnungen geweckt, dass nun die Aufklärung bis in die hohe Politik hineinwirken werde. Schließlich lebten damals zeitweise auch Voltaire und Maupertuis und Lamettrie am Hofe in Sanssouci.

Als nun Friedrich als oberster Kriegsherr persönlich in Leipzig sein Lager aufschlug, traf er auf eine gedemütigte Bevölkerung und auf einen allgemein gewordenen Preußenhass. Dies hielt Gottsched nicht davon ab, um untertänigst eine Audienz zu ersuchen. In Steideles Roman ist es Luise Gottsched, die sich vehement der vorgeblichen Friedensmission ihres Mannes widersetzt, während er sie mit allen Mitteln zur Räson zu bringen versucht.

Angela Steideles Roman verdanke ich einiges neue Sachwissen über das Aufklärungszeitalter, aber auch die Bestätigung skeptischer Gedanken. Indem sie sehr persönliche (weibliche) Perspektiven auf die Figuren, Geschehnisse und Ereignisse des Aufklärungszeitalters wirft, gelingt es ihr, die Ursachen und Hintergründe vieler Schwierigkeiten transparenter werden zu lassen, die das „Projekt Aufklärung“ in der konkreten Umsetzung an den Tag legte und weiterhin legt. Gerade für Tiefenpsychologen, die ihr Tun oftmals als eine Mitarbeit am Prozess der Aufklärung betrachten, bietet dieser Roman daher viele Anregungen, um über die Möglichkeiten und Begrenzungen der menschlichen Vernunft nachzudenken.