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Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
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Konzerte & Lesungen

Nils Landgren meets Ahrenshoop

Künstler*in & Interpret*in:Nils Landgren, Uschi Brüning und viele weitere
Veranstaltungsort:Ateliers, Restaurants, Kunsthäuser von Ahrenshoop (Sommer 2022)
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:19.06.2022

Warum gerade Ahrenshoop? Vor hundert Jahren hätten wir hier Maler und Künstlerinnen wie Paul Müller-Kaempff, Elisabeth von Eicken, Anna Gerresheim, Heinrich Schlotermann, Friedrich Wachenhusen gesucht und gefunden. Und vor sechzig oder siebzig Jahren sprach man vom Intelligenzbad Ahrenshoop: Bertolt Brecht, Ernst Busch, Hanns Eisler, Victor Klemperer, Christa Wolf, Sarah Kirsch, Hans-Georg Gadamer verbrachten ein- oder mehrmals ihren Sommer in jenem Ort, den Uwe Johnson einst als schönstes Land der Welt bezeichnet hat.

Und heute? Neuerdings wirbt die Kurverwaltung mit dem Slogan: Ahrenshoop – Ein Ort wie gemalt; und dieser Ort lebt vom Nimbus jener alten Zeiten und von unserer Sehnsucht, dieses Vergangene in der Gegenwart wiederzufinden und in die Zukunft zu verlängern. Denn Ahrenshoop bietet, was sehnsüchtige Projektionen fördert: die Gegensätze von unendlicher Weite des Himmels und des Meers sowie heimeliger Gemütlichkeit ehemaliger Fischerkaten; … von Kunst-Schönem (Ästhetik von Kunst und Kultur) und Natur-Schönem (Ästhetik von kaum berührter Natur); … von nostalgischem Gestern und utopischem Morgen. Wenn solche Sehnsüchte scheinbar oder tatsächlich befriedigt werden und wir dem Augenblick noch zurufen: Verweile doch, du bist so schön! – dann, ja dann erleben die meisten von uns Glück. Es sind solche Momente, die manche von uns wieder und wieder an diesen Ort ziehen.

Im Juni, meist zur Sommersonnenwende und damit zu einer Jahreszeit, zu der es in Ahrenshoop bis kurz vor Mitternacht einen hellen Streifen am Horizont über dem Meer zu bestaunen gibt, zieht es vor allem aber auch Musikbegeisterte an diesen Ort. Dort findet schon seit über 20 Jahren ein jeweils exzellent besetztes Jazz-Festival statt, das jedes Mal einige wenige Stars und Dutzende von unbekannteren, aber nichtsdestotrotz oftmals ausgezeichneten Jazzmusiker*innen auf dem Darß zusammenkommen und einige Tage lang musizieren lässt.

Neben den wenig bekannten Gruppen und Solisten war die letzten Tage auch der schwedische Posaunist Nils Landgren mit seiner Funk Unit in Ahrenshoop zu hören. Landgren gehört mit zu den produktivsten Jazz-Musikern Europas. Schon lange leitet er das Schleswig-Holsteinische Festival JazzBaltica; außerdem unterrichtet er als Professor für Jazz-Posaune an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Des weiteren trat als populäre und schon in der DDR hoch gehandelte Jazz-Sängerin Uschi Brüning in Ahrenshoop auf – sie bestritt mit dem Günther Fischer Quintett das Abschluss-Konzert des diesjährigen Festivals.

Wollte man Jazz beschreiben oder gar definieren, käme man so rasch an kein Ende, sondern vielmehr in enzyklopädische Dimensionen. Die meisten Experten verorten den Beginn dieser Musik-Richtung am Anfang des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten, wo Jazz aufgrund seiner afroamerikanischen Wurzeln eine Weile überaus despektierlich als „Negermusik“ abgetan wurde. Louis Armstrong dürfte vielen zumindest als Name bekannt sein; dieser Jazz-Sänger und Jazz-Trompeter gehörte mit zu den ersten, die (zum Beispiel auf Mississippi-Dampfern zur Unterhaltung der Passagiere) schon in den 10er Jahren des letzten Jahrhunderts diese neuartige Musik als New Orleans Jazz (Armstrong wurde 1901 in New Orleans in ärmlichste Verhältnisse hinein geboren) populär machte.

Innerhalb weniger Jahre und Jahrzehnte entwickelten sich aus dem New Orleans Jazz diverse Spielarten des Jazz, die sich teilweise enorm unterschieden oder immer noch unterscheiden. So wurde beispielsweise Dixieland-Jazz in den 20er Jahren bevorzugt von weißen Jazz-Musikern gespielt – New Orleans Jazz hingegen fast ausschließlich von dunkelhäutigen Musikern (Dixie war ein Synonym für die Südstaaten der USA – benannt nach der Zehndollar-Banknote der Bank of Louisiana; dort wurde französisch gesprochen, und deshalb stand auf der Banknote das französische Wort für zehn: dix). Im Chicago Jazz der 20er Jahre wurde dann das Saxophon als wichtiges Instrument entdeckt. Ebenso hatten der Swing (Django Reinhardt als Gitarrist ist hier zu nennen), der Bebop (Charlie Parker), der Latin Jazz (Dizzy Gillespie) oder der Cool Jazz (Miles Davis) ihre spezifischen Eigenheiten und Charakteristika.

Mit und nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der Jazz auch in Europa weite Verbreitung und neuerliche Modifikationen. Free Jazz (mit vielen freien Improvisationspartien) kam ebenso oben auf wie die Fusion von Jazz mit Soul (Blues- und Gospel-Elemente) oder mit Funk (vom amerikanischen Wort funky = grob, schmutzig), wobei bei Jazz-Funk der Rhythmus und nicht die Melodie mächtig an Bedeutung gewinnt. In Deutschland bildeten sich eigene Jazz-Formationen, so zum Beispiel um Klaus Doldinger oder Emil und Albert Mangelsdorff oder das United Jazz and Rock Ensemble (mit unter anderen Volker Kriegel, Wolfgang Dauner, Eberhard Weber, Barbara Thompson). Auch in Skandinavien kam es zur Ausbildung einer eigenen Jazz-Tradition: Jan Garbarek, ein norwegischer Jazz-Saxophonist, ist bekannt für seine introvertiert-lyrischen, beinahe melancholischen Stücke, wohingegen Nils Landgren mit seiner seit fast vier Jahrzehnten bestehenden Funk Unit überaus rhythmusbetonte, schnelle, rastlose Kompositionen spielt.

Mich haben allerdings in den letzten Tagen weder Nils Landgren noch Uschi Brüning noch andere Nobilitäten des Jazz, sondern vor allem drei unbekanntere Solisten und Solistinnen begeistert: die Gitarristen Marty Hall (ein kanadischer Selfmade-Musiker, der eigenen Aussagen zufolge keine Noten lesen, dafür umso exzellenter Gitarre spielen und singen kann) und Dave Goodman (ebenfalls aus Kanada stammend; er verbindet Jazz mit irisch-keltischer Musiktradition und ist darüber hinaus ein sehr witziger Entertainer) konnten viele berührend-musikalische Erzählungen auf ihren Instrumenten und mithilfe ihres Gesangs an ihr Publikum vermitteln. Und die Pianistin Ulrike Mai (geboren 1970), die lange schon in Ahrenshoop lebt und mit ihrem Partner Lutz Gerlach viele gemeinsame Klavierkonzerte gab und gibt, überzeugte mich mit ihrer (und Lutz Gerlachs) Variation Grieg und Frieden, bei der sie Motive aus dem a-Moll Klavierkonzert von Edward Grieg auf betörend-verzaubernde Art und Weise verjazzt hat.

So gefällt mir Jazz und Musik ganz generell: Wenn Melodien, Inhalte, Erzählungen das musikalische Geschehen dominieren und der Rhythmus sich diesem Geschehen anschmiegt. Wenn sich Musik jedoch nur und allein im Rhythmus gefällt, endet sie womöglich im inhaltslosen Nirwana und hinterlässt ihr Publikum dann eventuell etwas ratlos-betäubt mit eindrucksvoll-rhythmischer Leere, aber ohne tragfähig-poetische Erzählung.