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Biographien

Rückkehr nach Reims

Autor*in:Didier Eribon
Verlag:Suhrkamp, Frankfurt am Main 2016, 240 Seiten
Rezensent*in:Marlies Frommknecht-Hitzler
Datum:26.02.2019

„Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat“ (219). Dieser Satz von Sartre in Saint Genet wurde zum Lebensmotto von Didier Eribon. Der französische Journalist, Soziologe und Philosoph legte mit Rückkehr nach Reims seine Autobiographie vor, die er zugleich als „historische und theoretische Analyse“ versteht. Die Themen kreisen um sein Aufwachsen in der untersten Schicht und deren Verbindung zum Kommunismus, um seine Homosexualität und seine Schul- und Universitätslaufbahn.

Eribon stammt aus einer kommunistischen Arbeiterfamilie, die im Arbeiterviertel von Reims lebte. Er ist der zweite von vier Söhnen und der einzige, der studierte und damit aus diesem Milieu herauswuchs. Seine Eltern kommen aus einfachsten und entbehrungsreichen Verhältnissen. Ihre Jugend war zudem durch den Zweiten Weltkrieg überschattet, der manche Chance weiterzukommen (was vor allem für die Mutter zutrifft) zunichte machte. So waren und blieben sie Arbeiter „der niedrigsten Kategorie“ (immerhin konnte sich der Vater allmählich zum Vorarbeiter hocharbeiten). Eribon war ein sehr guter Schüler; dennoch war seine Schullaufbahn schwierig, weil er mit dem Eintritt ins Gymnasium in eine völlig neue, nämlich bürgerliche, Welt kam, gegen die er zunächst revoltierte. Er schwankte zwischen Abwehr und allmählicher „Identifikation mit dem Wissen und Lernen“ (157). Was ihm half, war ein Freund aus dem Bürgertum, durch den er erste Schritte in die Kultur tat.

Nach dem Abitur studierte er Philosophie zunächst in Reims, ab dem 20. Lebensjahr in Paris. Sein Weggehen beschrieb er als „Flucht“, einerseits vor seinem „gewalttätigen“ Vater, den er nicht wiedersah; andererseits aber auch, um seine Homosexualität leben zu können, ohne beschimpft und beleidigt zu werden. Obwohl er ungemein ernsthaft studierte, ermöglichte ihm sein Studium weder, als Lehrer zu arbeiten (es gab keine Stellen), noch seine Dissertation zu beenden ( er musste Geld verdienen). Durch Beziehungen aus der Homosexuellengemeinde gelangte er zur Zeitschrift Liberation und wurde als Journalist tätig. Dort lernte er viele Intellektuelle kennen, u.a. Michel Foucault und Pierre Bourdieu, mit denen er sich anfreundete und deren Theorien er erforschte. Später veröffentlichte er auch im Nouvelle Observateur. Beide Zeitschriften verließ er, weil sie sich zunehmend konservativ/rechts ausrichteten. Er begann wissenschaftlich zu schreiben und veröffentlichte eine Biographie über Michel Foucault, die großen Erfolg hatte und ihm Einladungen in viele Länder einbrachte. Später kamen Bücher über Homosexualität hinzu: Reflexions sur la question gay, Une Morale du inoritaire. Er lehrte an vielen Universitäten , vor allem in den USA. Schließlich gelang es ihm aufgrund seiner Reputation, Professor für Soziologie in Amiens zu werden.

Diesen Lebenslauf bettet Eribon in soziale und soziologische/politische Analysen ein zum Arbeitermilieu, zur Homosexualität und zur Schul- und Universitätsbildung. Am Beispiel seiner kommunistischen Familie erkannte er, dass die Arbeiterschicht an die Kommunistische Partei gebunden war und sie als „eine Art politisches Ordnungsprinzip“ ansah, das „den Horizont des
Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmte“ (117). Als dies nicht mehr funktionierte, d.h. als sich die Arbeiter nicht mehr durch die kommunistische Partei repräsentiert und in ihr aufgehoben fühlten, als die Linke eher die Sprache der Regierenden und nicht der Regierten zu sprechen begann, wandten sie sich dem Front National zu in der Hoffnung, dort ihre Belange vertreten zu sehen. Eribon schließt daraus: Wenn die Arbeiterschicht früher die Kommunisten gewählt hatten, versicherten sie sich stolz der „Klassenidentität“. „Mit der Wahl des Front National verteidigte man still und heimlich, was von dieser Identität noch geblieben war“ (123). Der Rassismus, der in dieser Partei eine tragende Rolle spielt, habe eine lange Tradition als „Alltagsrassismus“, auch schon zu Zeiten der Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei.

Wichtig war ihm auch die Auseinandersetzung mit der Homosexualität. Seine Erfahrung lehrt ihn, dass die Identität eines Homosexuellen „von der konstituierenden Macht der Herabsetzung geprägt“ ist (192). Als Homosexueller müsse man einen Weg finden, dies hinter sich zu lassen. Sein Weg sei es gewesen, Intellektueller zu werden und sich von seinem Herkunftsmilieu zu distanzieren. Er betont, dass er in der „schwulen Welt“ sozialisiert wurde. D.h. er lernte Menschen kennen und durch sie in „tausenden Initiationen“ die kulturelle Welt der Literatur, bildenden Kunst und des Theaters. Allerdings habe die Gewalt gegen die Homosexuellen nicht abgenommen. Die körperliche Gewalt werde ergänzt durch medizinische Pathologisierung und durch psychoanalytische, soziale, anthropologische, juristische Abhandlungen über die Natur des Homosexuellen.

Auch die schulische und universitäre Bildung nimmt Eribon unter die Lupe. Er beschreibt die Schwierigkeiten, denen sich Schüler aus dem Arbeitermilieu gegenübersehen. Die Welt des Gymnasiums ist die bürgerliche Welt. Die Schüler werden mit einer anderen Sprache, einer anderen Lebensweise, mit den bürgerlichen Werten, der bürgerlichen Kultur konfrontiert und neigen dazu, zu revoltieren und/oder zu resignieren. Mit dem Eintritt in diese neue Welt entfremden sie sich der Herkunftswelt; weder Eltern noch Geschwister verstehen, was passiert. Dass Eribon es geschafft hat, beruhet auf seinem Drang nach Wissen und Kultur, der für ihn als Homosexueller identitätsstiftend war; genauso wichtig aber war Freundschaft, Beziehung, die ihn verlockte. Das Gymnasium ist der erste schwierige Schritt auf dem Weg nach oben, die Universität der zweite. Seines Erachtens scheitern junge Menschen aus dem Arbeitermilieu dort an der mangelhaften Hinführung zu selbstständigem Arbeiten; es fehlen ihnen wichtige Informationen darüber, wie und wo man studiert, welche Wege erfolgversprechend sind und welche nicht, vor allem aber ein hilfreiches soziales Netzwerk (das er schließlich bei den Homosexuellen fand).

Dies ist ein Buch, das man nicht einfach weglegt. Es fesselt durch die persönliche Geschichte, aber auch durch die Überlegungen und Analysen des Autors. Es wird nicht verständlich, warum Eribon die (tiefen)psychologische Analyse und Forschung ablehnt, spürt man doch, dass er ihre Ergebnisse durchaus zu nutzen weiß. Das Buch bietet viele Anknüpfungspunkte der Identifikation für Menschen, die einen ähnlichen Weg gegangen sind. Die Entfremdung zur Herkunftswelt, die Zweisprachigkeit, das Nicht-Verstehen der der geistigen Tätigkeit durch körperlich arbeitende Eltern, das Nicht-Dazugehören (weder zur bürgerlichen Welt noch zur Herkunftswelt). Aufschlussreich ist auch seine Auseinandersetzung mit dem Erstarken des Front National. Seine Auffassungen darüber dürften auch für das Erstarken der Rechten in der Bundesrepublik gelten.