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Biographien

Konzert für die linke Hand

Autor*in:Lea Singer (Eva Gesine Baur)
Verlag:Hoffmann & Campe, Hamburg 2008, 464 Seiten
Rezensent*in:Jutta Friederich
Datum:11.03.2024

Die Buchautorin Eva Gesine Baur (geb. 1960) studierte Kunstgeschichte, Gesang sowie Musik- und Literaturwissenschaften und arbeitet in München als Sachbuchautorin und Publizistin. Sie schreibt hauptsächlich unter dem Pseudonym Lea Singer über diverse historische Persönlichkeiten, so auch 2008 über die Familie Wittgenstein, insbesondere über Paul Carl Hermann Wittgenstein (1887-1961).

Die meisten philosophisch vorgebildeten Menschen denken in erster Linie an Ludwig Wittgenstein (1889-1951), wenn sie den Familiennamen Wittgenstein hören, jedoch hat diese Familie einige weitere interessante Persönlichkeiten vorzuweisen. Unter anderem stand 1905 Margarethe Anna Maria Stonborough-Wittgenstein (1882-1958), die jüngste Tochter Karl Wittgensteins, dem Maler Gustav Klimt Modell. Das Gemälde ist noch heute in der Neuen Pinakothek in München zu bewundern.

Ursprünglich sind die Vorfahren der jüdischen Familie aus dem Wittgensteiner Land (NRW) über Umwege nach Wien ausgewandert. Der erfolgreiche Stahl-Industrielle Karl Otto Clemens Wittgenstein (1847-1913) erwies sich als konservativ-autoritärer Vater und ließ seine neun Kinder römisch-katholisch erziehen. Jedoch wurde die Familie aufgrund der damaligen nationalsozialistischen Rassengesetze als jüdisch eingestuft. 

In der Familie spielte Kunst und Musik eine große Rolle; die musikalisch begabte Familie (fast alle spielten ein Musikinstrument) war mit diversen hochrangigen Künstlern und Musikern bekannt. Eva Gesine Baur entlieh den Titel ihres Romans von Maurice Ravel: Das Concerto für die linke Hand ist eigentlich ein Klavierkonzert für die linke Hand in D-Dur und wurde von Maurice Ravel (1875-1937) zwischen 1929 und 1930 komponiert. Das Stück wurde von Paul Wittgenstein in Auftrag gegeben, der als Soldat im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm durch eine Kriegsverletzung verlor. Noch während seiner Rekonvaleszenz beschloss Paul, weiter als Konzertpianist zu arbeiten.

Zwischen Paul Wittgenstein und Maurice Ravel kam es allerdings noch vor der Uraufführung des in Auftrag gegebenen Musikstücks zum Eklat, da Wittgenstein den Notentext deutlich veränderte und Ravel diese Eingriffe ausdrücklich missbilligte. Im Briefwechsel der beiden Künstler versuchte Wittgenstein sich dahingehend zu verteidigen, dass Interpreten doch keine Sklaven der Komponisten sein dürften. Mit Ravels knapper Reaktion: „Interpreten sind Sklaven“ war jedoch der Bruch zwischen den beiden Männern endgültig besiegelt.

Nach dem Anschluss Österreichs an NS-Deutschland versuchte Paul seine beiden Schwestern Hermine und Helene zu überzeugen, Wien zu verlassen (Ludwig dozierte bereits seit einigen Jahren in England und erhielt 1939 in Cambridge eine Professur), doch sie weigerten sich, da sie zu sehr an ihrer Heimat hingen und nicht glaubten, dass eine so angesehene Familie durch die Nazis gefährdet sei. Doch für die Nationalsozialisten und ihre Nürnberger Gesetze blieben die Wittgensteins weiterhin Juden. Erst durch eine Ablass-Zahlung aus dem Familienvermögen in Höhe von vermutlich 1,8 Millionen Schweizer Franken wurde die Familie von der Reichsstelle für Sippenforschung als Mischlinge anerkannt und konnten ab August 1939, zwei Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, weiterhin in Österreich leben (die genaue Höhe der Summe ist bis heute nicht bekannt).

Paul Wittgenstein selbst war nicht bereit, sich mit den Nazis auf irgendeine Weise zu arrangieren, was zu einem lebenslangen Bruch mit der Familie führte (Margarethe lebte später in den USA in Pauls Nachbarschaft, aber die beiden pflegten keinerlei Umgang miteinander). Die Nationalsozialisten verboten Paul Wittgenstein, in Österreich öffentlich als Pianist aufzutreten; selbst das Unterrichten ohne Bezahlung war ihm untersagt, so dass das Leben als jüdischer Pianist für ihn in Wien schließlich lebensgefährlich wurde.

Als zentraler Wendepunkt des Romans steht die ungewöhnliche Liebesbeziehung zwischen Paul Wittgenstein und Hilde Schania (1915-2001), die blinde Tochter eines Straßenbahnangestellten, die er am Neuen Wiener Konservatorium kennenlernte, als er von 1931 bis 1938 eine Klavierklasse unterrichtete. Paul Wittgenstein, einer der begehrtesten Junggesellen und Dandy der damaligen Wiener Gesellschaft, ging 1934 eine leidenschaftliche Affäre mit seiner talentierten, aber deutlich jüngeren und nicht standesgemäßen Schülerin ein...