49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Biographien

Die verlorene Schwester – Elfriede und Erich Maria Remarque: Eine Doppelbiografie

Autor*in:Heinrich Thies
Verlag:zu Klampen!, Springe 2020, 370 Seiten
Rezensent*in:Judith Riester
Datum:03.09.2023

Unlängst besuchte ich eine Autorenlesung im Berliner Buchhändlerkeller - weder eine Buchhandlung, noch ein Keller, sondern ein Veranstaltungsort im alten Berliner Westen, an dem beinahe schon fünf Jahrzehnte lang die unterschiedlichsten Schriftsteller aus ihren Büchern lesen. Ihren Namen hat diese Location, weil sie ursprünglich in den 60er Jahren im Keller einer Bäckerei in Berlin-Friedenau eingerichtet wurde. Damals unterstützten unter anderem Uwe Johnson, Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger, die alle in Friedenau wohnten, diese literarische Einrichtung. 

Die Ankündigung der jetzigen Lesung unter dem Motto Lebensläufe lautete:Erich Maria Remarque ist durch sein Anti-Kriegs-Buch Im Westen nichts Neues zu einem der berühmtesten Autoren aller Zeiten geworden. Weltweit. Die Neuverfilmung ist gerade mit mehreren Oscars ausgezeichnet worden. Weniger bekannt ist seine Schwester Elfriede. Dabei endete das Leben der Damenschneiderin auf tragische Weise: Elfriede Scholz, geborene Remark, wurde am 16. Dezember 1943 in Berlin-Plötzensee enthauptet wegen angeblicher Wehrkraftzersetzung. Die Doppelbiografie geht den Lebenswegen der ungleichen Geschwister, die zeitweise beide in Berlin-Charlottenburg lebten, nach und dokumentiert sie auf packende Weise. Heinrich Thies, geboren 1953, hat Germanistik, Politik, Philosophie und Journalistik studiert und war Redakteur bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Er ist Autor von Biographien, Romanen, Sach- und Kinderbüchern. 1991 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.“

Heinrich Thies, der Autor dieser Doppelbiografie über Elfriede und Erich Maria Remarque, wirkte während der Veranstaltung natürlich und sympathisch. Seine Art zu lesen war unaufgeregt und frappierte durch die ausgestrahlte Ruhe im Kontrast zur Tragik der beschriebenen Ereignisse. Thies wuchs in bäuerlicher Umgebung auf, wurde zunächst Gymnasiallehrer, dann Autor und Journalist. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Unter seinen 24 Büchern sind drei Kinderromane, z.B. Familie günstig abzugeben aus dem Jahre 2008. Thies ist bekannt dafür, dass er Biografien auch über nicht-prominente Menschen schreibt - und dies in einer Mischform, in der sich Fakten mit fiktiven Abläufen und Gesprächen treffen. In seinen Büchern verknüpft er Biografie und Romanhaftes, wobei er sehr gründlich recherchiert und das dabei gewonnene Material kunstvoll ausleuchtet und ausformuliert.

So auch in der hier angezeigten Doppel-Biografie. Thies schildert das Aufwachsen der drei Geschwister Erich, Erna und Elfriede in Osnabrück – der Vater war Buchbinder, die Mutter Hausfrau – und deren Ausbildung und Lebensläufe, vor allem Erichs hinreichend bekannte Biografie sowie jene aus spärlichem Material gut kompilierte Elfriedes. Erich Maria Remarque war im Ersten Weltkrieg 1917 verwundet worden und kam in ein Lazarett in Duisburg, wo er viel Elend der Verwundeten miterlebte. In der Schreibstube des Lazaretts erhielt er Arbeit und konnte mit seinem Roman beginnen, der ihn später weltberühmt machte. Nach dem Weltkrieg erhielt er das Eiserne Kreuz, wurde entlassen und beendete sein begonnenes Lehrerstudium.

Mehrfach wird erwähnt, dass Erich (der seinen zweiten Namen Maria von Elfriede übernahm, die ihn abgelegt hatte) nach der Veröffentlichung von Im Westen nichts Neues regelrecht im Geld schwamm. Er konnte wie so manche berühmte Künstler mit seinem immensen Erfolg nicht besonders gut umgehen und neigte entschieden dem Alkohol zu. Mit mehreren seinerzeit bekannten Frauen (Marlene Dietrich, Natascha Paley, Sandra Rambeau, Greta Garbo, Paulette Goddard) unterhielt er Liebschaften, und mit der Tänzerin Jutta Zambona war er zwei Mal verheiratet.

Das Leben der beiden Geschwister wird von Thies eindringlich beschrieben, besonders packend auch das Leben der Schwester Elfriede. Sie führte ebenfalls ein freies Leben, war mehrfach verheiratet und als selbstständige Damenschneidermeisterin sehr erfolgreich gewesen. Zum Verhängnis wurde ihr eine kritische Äußerung in Bezug auf das Kriegsgeschehen. Sie hatte das Pech, dass eine Freundin, die sich mutmaßlich von ihr in ihrem Liebesbedürfnis abgewiesen fühlte, sie an deren Ehemann verriet, der ein Nazi-Offizier war. Auch ihre Vermieterin, eine habgierige, missgünstige und alleinstehende Frau, sagte gegen Elfriede aus. Vor dem berüchtigten Volksgerichtshof wurde sie wegen „Wehrkraftzersetzung“ kurzerhand zum Tode durch das Fallbeil verurteilt. 

Erich Maria Remarque erhielt diese Schreckensnachricht erst nach Kriegsende. Thies beschreibt dessen Schuldgefühle, wobei unklar bleiben muss, ob der Dichter, der inzwischen verfemt und staatenlos geworden war, etwas gegen das tragische Schicksal seiner Schwester hätte ausrichten können. Trotz dieses Endes empfand ich das Buch von Heinrich Thies als einen unbedingt lesenswerten Text.