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Biographien

A Biography of Loneliness

Autor*in:Fay Bound Alberti
Verlag:Oxford University Press, Oxford 2019, 298 Seiten
Rezensent*in:John Burns
Datum:13.02.2020

Fay Bound Alberti lehrt Geschichte an der York University in Großbritannien. In A Biography of Loneliness untersucht sie die Entwicklung der Einsamkeit als individuelles und soziokulturelles Phänomen, welches im 21. Jahrhundert wie eine Epidemie die finanziellen Ressourcen des nationalen Gesundheitssystems des Vereinigten Königreichs stark überfordert.

Während die Einführung eines neuen politischen Ressorts mit einer Minister of Loneliness den Eindruck erweckt, dass Einsamkeit ein klar umrissenes Thema darstellt, weist die Historikerin auf die vielen Varianten des Alleinseins von der schöpferischen Introversion des Künstlers bis zum schmerzlichen Ostrazismus hin, dem psychisch Kranke, Obdachlose und körperlich verunstaltete Menschen oft ausgesetzt sind. Eine vergleichende historische Studie wirft eventuell ein neues Licht auf dieses Problem. Woran liegt es zum Beispiel, dass isolierte Menschen im 21. Jahrhundert das Alleinsein als Makel empfinden, während das Alleinsein in früheren Jahrhunderten als Möglichkeit der Zwiesprache mit Gott oder mit der Natur positiv gewertet wurde?

Der Vorteil einer historischen Aufarbeitung der Geschichte der Einsamkeit besteht darin, dass die sozialökonomischen Ursachen und die gesundheitsschädigenden Folgen der Einsamkeit in neoliberalen Gesellschaften besser verstanden werden. Zwei Vorurteile, die das Verstehen des Phänomens Einsamkeit erschweren, werden schon in der Einleitung des Buches als „Konstrukte“ entlarvt. Menschen, die wegen Armut, Krankheit, Geschlecht oder Alter wirtschaftlich benachteiligt sind, dürfen nicht als Opfer des angeblich unvermeidlichen Kampfes ums Dasein betrachtet werden. Die zunehmende Zahl der Einsamen spiegelt eher die Marktbedingungen einer Gesellschaft wider, welche der ökonomischen Freiheit vor der sozialen Verantwortung Priorität einräumt.

Ebenfalls abzulehnen sind Erklärungen der Einsamkeit, die von der Conditio humana ausgehen. Der Mensch ist nicht per se zum schmerzlichen Alleinsein verurteilt, erläutert die Autorin.  Nachdem im 18. Jahrhundert das quälende Gefühl der Verlassenheit zum ersten Mal beschrieben wurde, wurde die Einsamkeit zu einem beliebten literarischen Motiv. In der Literatur von der Romantik bis zum Existentialismus erscheint die Einsamkeit als unausweichlicher Modus des irdischen Lebens, wenn es kein übergeordnetes religiöses Narrativ mehr gibt, welches dem Menschen Halt bietet. Wenn der Kampf ums Dasein die soziale Sicht auf die Epidemie Einsamkeit verschleiert, wirkt der Byronsche Weltschmerz, der im 18. Jahrhundert von sensiblen Menschen empfunden wurde, seinerseits auch heute noch auf das individuelle Gemüt, wenn es zur Depression und Angst neigt.

Wie das im Einzelnen erfolgt, und ob tradierte Bilder und habituelle Empfindungen aus früheren Epochen den heutigen Menschen belasten können, wird von der Autorin vermutet, nicht aber anhand von Forschung erhärtet. Wie wird Einsamkeit definiert? Offensichtlich handelt es sich um einen Cluster von Emotionen und Empfindungen, zu denen die Autorin die Abwesenheit von Glück, den Verlust sozialer Verbundenheit, Depression, Entfremdung und soziale Isolierung zählt. Einsamkeit kann in einer spezifischen Entwicklungsphase vorübergehend auftreten, wie z.B. in der Pubertät, bei der Ablösung vom Elternhaus oder beim Eintritt in eine neue Lebenssituation; sie kann aber auch bei Obdachlosigkeit und Altersarmut chronisch werden. Einsamkeit ist ein häufiges Symptom bei psychischen Störungen, wie Frieda Fromm-Reichmann in einem Aufsatz zu diesem Thema ausführte. Sie wirkt sich auch auf den Körper aus, wenn chronische Isolierung Stress verursacht und das Immunsystem schwächt.

Fay Bound Alberti kennt Einsamkeit aus eigener Erfahrung. Als Kind wuchs sie „on an isolated Welsh hilltop“ ohne Internet und Telefon auf. Ihre Eltern lebten wie „Hippies“ auf dem Lande. Die nächsten Nachbarn waren einige Kilometer entfernt und sprachen Walisisch, die Fay als Engländerin nicht verstand. Sie spielte gern in den Wäldern und begann als introvertiertes Kind, sich eigene Geschichten auszudenken. Erst im späteren Leben erfuhr sie Einsamkeit als Problem. Zum produktiven Alleinsein kam es nicht, als sie durch eine schwierige Ehe, die Erziehung ihrer Kinder und die Anforderungen ihrer akademischen Karriere zu sehr belastet war.

In ihren persönlichen Erfahrungen mit Einsamkeit wird die Ambivalenz des Alleinseins veranschaulicht, welche die Autorin anhand der Biographien von bedeutenden Künstlerinnen und  Künstlern aufzeigt. Kreative Menschen suchen gelegentlich die Einsamkeit, um sich vom Druck des sozialen Lebens fernzuhalten. Sie wollen für sich sein, um eine produktive Innerlichkeit zu
entfalten und zu pflegen. Wie Virginia Woolf schrieb, braucht die kreative Frau ein Zimmer für sich allein.

Die Erzählung von Franz Kafka Der Hungerkünstler handelt von einem Künstler, der auf die Anerkennung und Zuneigung eines Publikums angewiesen ist. Wenn keiner die besondere Leistung des Hungernden beachtet, hat das Leben für ihn keinen Sinn mehr. Kafka hat in seiner Erzählung eine eindrückliche Metapher des Alleinseins geschaffen. Einsamkeit wird auch als Hunger empfunden, wie der Neurowissenschaftler John Cacioppo feststellte. Es fehlt dem Einsamen etwas; er sehnt sich nach der Berührung (touch) anderer. Junge Menschen sind auf die Anerkennung ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen besonders angewiesen.

Gesellschaftliche Veränderungen haben seit dem 18. Jahrhundert die pathologische Einsamkeit anscheinend begünstigt. In der postindustriellen Gesellschaft lockern sich die traditionellen  Familienbeziehungen; der Einsame findet keinen Halt in einer religiösen Gemeinde, und der Arbeitsmarkt ist für viele ein unsicheres Pflaster geworden, wie Lars Andersson von der Linköping
University in Schweden ausführt. Heute verzweifeln viel mehr Menschen als früher, weil sie sich von ihren Mitmenschen abgelehnt und missverstanden fühlen, wenn sie durch Arbeit,  Familienbeziehungen oder sinnvolle Freizeitgestaltung in die Gesellschaft nicht mehr eingebunden sind.

In der Analyse der Einsamkeit wird der vom Soziologen Ferdinand Tönnies formulierte Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft relevant. Im 21. Jahrhundert wird die soziale Verbundenheit und gegenseitige Hilfe, die z.B. eine Dorfgemeinschaft oder Kirchengemeinde auszeichnet, weniger praktiziert, weil die Gesellschaft Werte wie z.B. Individualismus und  Konkurrenz fördern. Andererseits erwähnt Fay Bound Alberti zahlreiche informelle Projekte, welche einsame und alleinstehende Menschen für sich in Anspruch nehmen können, die bezeugen, dass der Mensch prinzipiell eine soziale Disposition hat.

Das Buch ist für Leserinnen und Leser geeignet, denen im Berufsleben, im Freundeskreis oder in der Familie Einsamkeit begegnet sind. Fay Bound Alberti schreibt einen anschaulichen Stil und zeichnet ein möglichst umfassendes Bild der Einsamkeit. Aus tiefenpsychologischer Sicht ist an ihrem Ansatz aber einiges zu bemängeln. Weil sie die Kontinuität ihrer historischen Forschung mit der Gegenwart betont, räumt sie der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der komplexen Psychologie C.G. Jungs wenig Raum ein. Sie setzt ihre Hoffnung auf eine Linderung der Einsamkeit im 21. Jahrhundert in die kognitive Verhaltenstherapie, in die neurowissenschaftliche Forschung und in die Entwicklung neuer Psychopharmaka.

Die Leistung Alfred Adlers, in dessen Individualpsychologie das Gemeinschaftsgefühl den zentralen Begriff darstellt, scheint die Autorin nicht zu kennen. In den Literaturempfehlungen fehlt auch das wichtige Buch von David Riesman The Lonely Crowd (1950), in dem der Sozialpsychologe auf die Anpassung junger Menschen in der postindustriellen Gesellschaft an ihre soziale Gruppe oder peer group hinweist. Riesman beschrieb den modernen Menschen als außengeleitet und weniger selbständig als den traditionsgeleiteten oder innengeleiteten Typus, der im 19. Jahrhundert durch Sozialisation gefördert wurde.

Einige Aspekte der Einsamkeit, die Fay Bound Alberti aufzählt, wie z.B. Passivität, Feindseligkeit als Bewältigungsstrategie, Geschlechtsidentität, soziale Erwartungen, Identität und Selbstachtung werden von der Historikerin als Oberflächenphänomene beschrieben, während sie durch eine tiefenpsychologische Analyse erhellt werden müssten. Die Kurzbiographie der amerikanischen Dichterin Sylvia Plath imponiert allerdings, weil die Autorin sich in diesem Kapitel in die Tragik der talentierten Frau emotional einfühlt.